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Ludger M. Hermanns (Hg.): Psychoanalyse in Selbstdarstellungen, Bd. X: Beiträge von Anita Eckstaedt, Paul L. Janssen, Peter J. Loewenberg, Hildegard Munzinger-Bornhuse, Anne-Marie Sandler. Frankfurt a. M. (Brandes & Apsel) 2015, 296 Seiten. 29,90 Euro.

 

Zuerst vor 100 zuletzt vor 90 Jahren schickte sich Sigmund Freud an, für die Präsentation der Wirklichkeit der Psychoanalyse als Krankheitslehre und Therapie sowie als Psychologie und Kulturtheorie in der wissenschaftlichen und kulturellen Öffentlichkeit ein richtiges »Mengungsverhältnis zwischen subjektiver und objektiver Darstellung, zwischen biographischem und historischem Interesse zu finden.« (Freud, G.W., 14, S. 34) Das Ziel griff Ludger Hermanns vor 23 Jahren wieder auf. Nun liegt der zehnte Band der von ihm herausgegebenen »Psychoanalyse in Selbstdarstellungen« vor. Fünf neue Beiträge sind hinzugekommen: »Mein Weg« von Anita Eckstaedt; »Mein Weg als Psychoanalytiker in der Psychiatrie, Psychosomatischen Medizin, Psychotherapie, Universität und Berufspolitik« von Paul L. Janssen; »Umwege meines Lebens« von Peter J. Loewenberg; »Das Dorf und die Welt. Mein Weg zur Psychoanalyse« von Hildegard Munzinger-Bornhuse; »Konflikt und Versöhnung« von Anne-Marie Sandler. Sie lassen den Originalschatz der namhaftesten und einflussreichsten zeitgenössischen Psychoanalytiker, Wissenschaftler und Berufspolitiker auf die Zahl von 57 Abhandlungen von je durchschnittlich 30 – 50 Seiten anwachsen.

Aus anfänglichen Einzeldarstellungen ist ein umfangreiches kulturelles Nachschlage- und Gedächtniswerk geworden. Nicht etwa ein Wörterbuch der Psychoanalyse. Auch kein biographisches Lexikon über Psychoanalytiker, also nichts aus zweiter Hand und gewichtend-retrospektiv über Psychoanalytiker und über ihre Werke. Sie schreiben selber authentisch und gleichsam in Echtzeit über Wörter, Begriffe, Werke, Namen, Schulen, Theorie- und Praxisentwicklungen, Rezeptionen, Schicksale und Folgen. Sie geben zeitnahe Auskünfte über die Entwicklung der Psychoanalyse vom ehemaligen Common Ground der Es-Ich-Analyse der vierziger Jahren zur zeitgenössischen pluralistischen Psychoanalyse mit ihrem unermesslichen Bestand an expliziten und impliziten Beobachtungs-, Empirie- und Theoriebeständen. Vor allem zeigen sie auch sich neu auftuende zeitgenössische Gegenstände der Psychoanalyse und widerlegen die Unterstellung, Psychoanalyse sei erforscht und obsolet.

So widmet sich Anita Eckstaedt, die vor dem Krieg geboren und im Krieg aufgewachsen ist, ausführlich der Wiederkehr von Krieg und Verfolgung in späteren Lebensentwicklungen und Lebensschicksalen. Sie versucht die Phänomene der Transgeneration der Generations of the Holocaust, der zweiten Generation, der pathologischen Identifizierungen mit den Tätern und Mitläufern und die daraus folgenden schicksalhaften Verläufe und Strukturausbildungen, den Hörigkeitsverhältnissen und – ganz besonders tragweit – den identifikatorisch unbewusst vererbten fortdauernden Einfühlungsverweigerungen zu beschreiben. Anne-Marie Sandler, die als Jüdin in der vermeintlich sicheren Schweiz geboren und aufgewachsen ist, erlebte 300 Meter südlich der Grenze, wie deutsch-jüdische Familien ihre Kinder in der Schweiz in Sicherheit bringen wollten. Sie bekam diesen »Strom von Kindern« nie erklärt und konnte nicht verstehen, warum Eltern ihre Kinder wegschickten, selbst wenn sie verzweifelt waren. Auch hier wird die fatale Entwicklung von nicht alles gesagt bekommen zu haben, vom nicht darüber Reden, zum Schweigen, zum ausbleibenden Aufbegehren nachvollzogen.

Der in das Dritte Reich hineingeborene und sofort zu Beginn emigrierte Peter J. Loewenberg schildert das Entwickeln einer »intergenerationalen Identität« und das Phänomen eines »transgenerationellen Nachtragens«, einer Variante des Traumamechanismus der Nachträglichkeit. Hildegard Munzinger-Bornhuse, in die Weimarer Republik hineingeboren, ist in den seelischen Kriegen des Nationalsozialismus vor dem Zweiten Weltkrieg aufgewachsen. Der Beitrag von Paul L. Janssen trifft sich mit ihrem und dem von Loewenberg in dem Punkt der Implementierung der Psychoanalyse in bestehende Versorgungs- und Universitätsstrukturen. Freuds alte Frage, soll die Psychoanalyse an der Universität gelehrt werden und wie können Nichtmediziner – früher Laienanalytiker genannt – einen Ort in der Versorgung und Wissenschaft, also eine berufsrechtliche Anerkennung, erringen, wird von Loewenberg mit organisations-psychoanalytischer Akribie dargestellt bis hin zur Nutzanwendung dieser Erfahrungen und erworbenen Erkenntnisse in Osteuropa und Asien nach der Wende.

Ganz ähnliche Schilderungen lesen wir bei Munzinger-Bornhuses Weg über zwei westdeutsche Institutsgründungen und schließlich über ihre »Aufbauarbeit Ost«, die schon vor der Wende und in Zusammenarbeit mit der Jenaer Gruppe begann. Janssen stellt den langen Marsch der Psychoanalyse, der – wie Loewenberg schreibt den »Sitz im Leben etabliert« – zunächst durch die Universitäten und dann in die Versorgungseinrichtungen mit langen Liegezeiten dar. Heute folgen den in Deutschland schon in den 50er Jahren entwickelten Institutsaus- und Institutsweiterbildungen solche an neu gegründeten Privatuniversitäten. Können sie die befürchtete Direktausbildung auffangen? Mit welchen sozialrechtlichen und berufsrechtlichen Hürden dort zu kämpfen ist, wird besonders instruktiv von Loewenberg am Beispiel der amerikanischen Entwicklungen dargelegt. Sandler webt in ihrem Beitrag gleichsam den roten Faden einer Psychoanalyse der Versöhnung durch den Text. Er beginnt mit dem schon erwähnten Unverständnis des Stroms von aus Deutschland weggeschickten Kindern (und Psychoanalytikern), selbst wenn Eltern verzweifelt waren, fährt mit Ausbildung und Studien in der Kinderanalyse in London fort und kettelt schließlich die »Kinder« der westdeutschen psychoanalytischen Bewegung nach dem Krieg in eine Reintegration der heutigen Psychoanalytikergeneration mit der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung.

Alle Texte sind wegen ihrer arbeits-biographischen Verankerung berührend, teils aufwühlend und setzen vielfältige Impulse, schöpferische Anreize und Denkanstöße; sie fördern eine ins Offene weisende Psychoanalyse und zeigen, was zu leisten sie imstande ist. In Abwandlung eines Spruchs von Paul Klee, auf den Eckstaedt in diesem Band Psychoanalyse anwendet, weisen sie nach, dass die Wirklichkeit der Psychoanalyse als »Deutungskunst« (Freud, ibid, S. 69) im gegenwärtigen Pluralismus nicht auf mehr oder weniger indoktriniertem und befolgtem Können gründet, sondern auf nicht anders Können der je gewordenen Persönlichkeit.

Joachim F. Danckwardt (Tübingen)

2015 2015

Kurt R. Eissler: »Diese liebende Verehrung…«. Essays zu Literatur, Kunst und Gesellschaft. Hg. von Konstanze Zinnecker-Mallmann Frankfurt (Brandes & Apsel) 2013. 426 Seiten.

 

Wer hat Kurt R. Eissler (1908-1999), von 1951 bis 1989 Sekretär des New Yorker Sigmund Freud Archives, nicht um Quellen, Auskünfte, Wegweisung, Rat oder editorische Hilfe angesucht?  Wohl kein Forscher, der von seiner aufmerksamen und präzisen Zugewandtheit enttäuscht wurde. Selbst den geringsten unter ihnen antwortete er nicht ohne Ermutigung und ausgewählte Höflichkeit: »…Es war schön … Sie bei der Arbeit zu wissen. « Nach seinem Tod 1999 übernahmen Andere die Aufgaben um Sigmund Freuds Entwicklungs-, Ideen- und Wissenschaftsgeschichte der Psychoanalyse. Die Rezeption seiner eigenen, die literatur- und bildkunstwissenschaftliche Psychoanalyse beträchtlich prägenden Arbeiten versiegte jedoch.  Zwölf frühere Studien vertraute er zwischen 1974 und 1999 dem Jahrbuch der Psychoanalyse an; andere blieben beiträgerhaft  in den Berliner Heften oder im Kursbuch verstreut. Bis endlich um seinen 100. Geburtstag herum Editionsprojekte in zwei  von Michael Schröter herausgegebenen und bei Brandes & Apsel verlegten Luzifer-Amor-Heften (Nr.40; Nr.43) zustande kamen. Aus diesen Interessen- und Arbeitskreisen ging auch Konstanze Zinnecker-Mallmanns  Inspiration hervor, Eisslers nicht fachgebundene Werke zu versammeln sowie seine noch nie im Deutschen erschienenen Studien sorgfältigen Übersetzern aus dem Amerikanischen, Henriette Beese, Mario Engelhardt, Edda Hevers und Elisabeth Vorspohl,  anzuvertrauen.

Der Band  enthält 12 Studien. Sie beginnen mit dem Abriss einer Biographie August Aichhorns (1949). Aichhorn war Eisslers Lehranalytiker, Mentor und Lehrer in Wien, der mit angewandter Psychoanalyse vor 90 Jahren die Verwahrlosung, Fürsorge, Jugendkriminalität, Delinquenz und Sozialarbeit erschloss und mit Eissler in der Erziehungsberatung zusammenarbeitete. Jener engeren Themenauswahl  ist die zweite Studie gewidmet: Einige Probleme der Verwahrlosung (1949).  Sie beschreibt die »Sünde und Verbrechen an der Menschheit« sowie das »Stiefkind von Psychiatern und Psychotherapeuten«, wenn diese nicht genügend ambivalenzarm bereit sind, sich gemäß Aichhorns Konzeption als notwendiges Ideal der Verwahrlosten zu begreifen. Das dritte Kapitel umkreist Die Seele des Rekruten – Zur Psychopathologie der US-Armee. Zwar 1945 geschrieben, entbehrt es überhaupt nicht der Aktualität. Der Begriff »Psychopathologie« mag dem Leser vielleicht außenperspektivisch oder abstrakt-begriffssprachliche Beschreibungen beziehungsweise außenperspektivisch verfasste Ich-Berichte versprechen. Tatsächlich sind es aber psychoanalytische, also Innenansichten der Rekruten erprobende, psychologisch rekonstruierende und figurenperspektivisch miterlebende, miterleidende Schilderungen über die zur Umwandlung einer Seele führenden Methoden der Entsubjektivierung und Entpersönlichung in der Rekrutenausbildung in kasernierten Parallelwelten. Ohne Entsubjektivierung und Entpersönlichung ist keine Kampfmaschine zu bekommen. Ohne diese sind keine PTS-Syndrome moderner Bürger in Uniform denkbar. Die Studie, die Eissler als Psychiater in der US-Armee konzipiert hatte, stellt das notwendige Analog zu seinem anderen Klassiker dar: Die Ermordung wievieler seiner Kinder muß ein Mensch symptomfrei ertragen können, um eine normale Konstitution zu haben? Leider ist diese Studie in diesem Band nicht vertreten. Sie erschien 1963 in der Psyche (17: 241-291) und bot dem Rezensenten in seiner Funktion als Gutachter in Entschädigungsverfahren eine rettende Gegenleitlinie zur damaligen noch von Kurt Schneider dominierten Entschädigungsrechtsprechung. Die Seele des Rekruten  ist ebenso eine Leitlinie; sie könnte auch den für Militäreinsätze aktuellen Titel tragen: Die Metamorphose wievieler Subjektivierung und Persönlichkeit muss ein Rekrut ertragen können, um eine symptomfreie Kampfmaschine zu werden und zu bleiben? Das vierte Kapitel – Psychoanalytische Überlegungen zu den »Brüdern Karamasoff«(1945)  führt den Leser aus diesen ›Kriegsmanuskripten‹ (WAR-MS) heraus zu einer prachtvollen Perlenkette literatur- und bildkunstwissenschaftlich prägender Psychoanalyse: Zur Funktion des Details in der Interpretation literarischer Werke (1959),  Allgemeine Einleitung aus ›Diskurs über Hamlet und Hamlet‹ (1971) und  Fortinbras und Hamlet (1968). Dostojeweskis Aljoscha ist darin ein Beispiel für die notwendige Ambivalenzarmut, mit der ein liebender Sohn dem heruntergekommen Vater begegnet und so gegen die zerstörerische Dominanz des Patriarchen angeht: »Er [Aljoscha] sah alles und verurteilte nicht […] Nur mit dir fühle ich [Vater] mich gut, wo ich ja sonst ein böser Mensch bin. « Die Funktion von Details in der Interpretation literarischer Werke legt Eissler anhand von Ferdinand Raimunds Stück, Der Alpenkönig und der Menschenfeind«, dar. Dort war es ein künstlerischer Fehler, den Eissler in das psychoanalytische Phänomen der Fehlleistungen einreihte, und der sich auf diese Weise als ein aktuell akutes Problem des Dichters erweisen konnte. In den zwei Hamlet-Essays stellt Eissler einen zentralen Stoff bei Shakespeare heraus, in dem die stillschweigende Gleichsetzung von Fortinbras mit Aljoscha erneut aufscheint: die Reaktionen eines Sohnes auf den gewaltsamen Tod seines Vaters. Im dritten Hamlet-Text arbeitet Eissler die Beziehung zwischen Erklären und Verstehen in der Psychoanalyse, aufgezeigt an einem Aspekt von Freuds Literaturinterpretationen (1963) heraus. In ihm scheint Eisslers Anspruch durch, Anleitung zu verlässlichem und nachvollziehbarem Arbeiten in der psychoanalytischen Literaturwissenschaft zu vermitteln und eine bewusste Sonderung zwischen zweierlei Methoden zur Erklärung literarischer Werke einzuführen, die sich an Harold Collin anlehnen: die exopoetische Methode, die - exemplifiziert 1910 an Freuds Leonardo -  sämtliche Erklärungsfaktoren außerhalb des literarischen Werks  sucht, und die endopoetische Forschung, exemplifiziert  1903 an Freuds Gradiva-Studie, bei der sich alle Erklärungsfaktoren im Werk selbst, z. B. in der Figurenanalyse, finden. An diesen Studien wie auch später an denen über Hamlet legt Eissler dar, daß Freud zentrale psychoanalytische Topoi nicht nur infolge seiner Krankenbeobachtungen entdeckte, sondern auch infolge jener Studien, in denen Shakespeare seinen Protagonisten – Hamlet – Leben verlieh und dieses tiefenpsychologisch anlegte. Freud habe literarische Figuren eben nicht lediglich dazu benutzt, seine zuvor ausgearbeiteten psychoanalytischen Theorien und Interpretationen zu veranschaulichen, sondern die Figuren zu Objekten seiner klinischen Untersuchungen gemacht. Dadurch sei er manches Mal zu tiefgreifenden Änderungen seiner Theorien gezwungen worden: »Fürwahr, der Künstler ist dem Psychologen stets voraus. « So vermutet Eissler auch in Hinsicht auf Freuds Lebens-Todestriebhypothese Shakespeares Urheberschaft in Cordelia als Todessymbol im Motiv der Kästchenwahl (Freud 1913f). Im zweiten Teil des Aufsatzes geht Eissler ausführlich auf die epistemologische Erforschung der Funktionen des Erklärens und des Verstehens zu, dabei weit ausholend mit W. Diltheys Psychologica explanans und Psychologica comprendens (1884) sowie T. S. Kuhn (1962)  in die Ich-psychologische Kontroverse der Nachkriegsjahre mit H. Hartmann und P. C. Kuiper einführend. »Dass die Psychoanalyse ihrem Wesen nach eine Psychologica explanans ist, macht es zur Gewissheit, dass irgendwann eine neue Psychologie an ihre Stelle treten wird. « Es mutet weitsichtig an, wenn Eissler mit einem Blick in die Zukunft konstatiert: »Es hat sich ein psychoanalytisches Alltagswissen etabliert, das ein Gefühl des Verstehens vermittelt und dadurch automatisch das Suchen nach neuen Erklärungen vereitelt. […] Man sollte als Erklärung im eigentlichen Sinn lediglich eine solche Aussage bezeichnen, die über das, was zum Alltagswissen der jeweiligen Epoche gehört, hinausreicht. «  

Auf vier weitere Aufsätze ist ebenso eindringlich hinzuweisen: auf Bemerkungen zur Umwelt des Genies (1959) und Psychopathologie und Kreativität (1967) sowie auf Das Beste an der Menschheit (1964) und Versuch über das archaische Lächeln – Eine Phantasie (1980). Das Beste an der Menschheit ist eine 1964 im Journal oft the American Psychoanalytic Association erschienene Rezension des von Ernst und Lucie Freud 1960 herausgegebenen Bandes, Sigmund Freud. Briefe 1873-1939, die erstmals 1968 in Deutsch bei Fischer erschienen waren. Eisslers Rezension war im Original fünfunddreißig und in der Übersetzung dreiundvierzig Seiten lang – eine äußerst ungewöhnliche Handhabung von Buchbesprechungen. Die Länge weist darauf hin, dass Eissler aus Freuds Briefen 1873-1939 im Grunde genommen die wohl kürzeste, zugleich innerste und intimste Geschichte der Psychoanalyse auf der Grundlage ausschließlich brieflicher Selbstdarstellungen gezogen hat. Er kann sie vor der Folie eigener Kenntnisse und Zusammenhänge aus seiner Wiener Zeit bis 1938 fügen und damit dem Leser manche überraschende Perspektive öffnen. Dass zum Beispiel viele österreichische Analytiker es mit ihrem Leben bezahlt hätten, wenn Freud vor der Besetzung Österreichs 1938 durch die Nationalsozialisten geflohen oder abgereist wäre. Da seine körperliche Sicherheit durch diplomatische Intervention zugesichert gewesen sei, sei die Verfolgung von österreichischen Analytikern allgemein abgemildert worden, und es sei allen österreichischen Analytikern erlaubt gewesen, das Land zu verlassen, so eben auch Eissler 1938 nach Amerika. Die Rezension der Briefe 1873-1939  wird nicht nur von Eisslers Überzeugung getragen, dass ihm Freud das Überleben gerettet hatte, sondern dass er in ihm auch einem Genie begegnet war, und damit reihen sich seine Studien in die beiden anderen Bemerkungen zur Umwelt des Genies (1959) und Psychopathologie und Kreativität (1967) ein. In ihnen portraitiert er neben anderen Johann Wolfgang von Goethes früheste Entwicklungsbedingungen nach seiner Geburt und durch die »Mechanik« der »kreativen Phasen und der phasenspezifischen Bedürfnisse« hindurch. Dabei stößt er auch auf bei B. v. Arnim gefundene psychodynamische Zusammenhänge mit Goethes Mutter. Um nur eins von zahlreichen Beispielen herauszugreifen: Die Mutter war eine begeisterte Geschichtenerzählerin. Sie machte regelrecht abendliche Lesungen, deren Lösungen sie auf den nächsten Abend verschob. Goethe fieberte dann dem Fortgang der Geschichte zunächst selber nach. »Diese Phantasien vertraute er regelmäßig seiner […] Großmutter väterlicherseits an. Von ihr wiederum erfuhr die Mutter von den Erwartungen des Jungen, ›und so war ein geheimes diplomatisches Treiben zwischen uns, das keiner den anderen verriet‹ «. In Goethes Dichtung und Wahrheit von 1812 kann man nun tatsächlich die Expression solchermaßen angelegter Kerne von Begabung und Talent bestätigt und Eisslers Annahmen verifiziert finden: Goethe war im März 1768 nach einem Besuch der Dresdner Gemäldegalerie einer überaus wertvollen  »Gabe gewahr« geworden und hatte sie »nachher mit mehrerem Bewusstsein [geübt], die Natur nämlich mit den Augen dieses oder jenes Künstlers zu sehen«. So beispielhaft in Dresden eine reale Schusterwerkstatt als  »ein Bild von [Adriaen van] Ostade [1610-1685] zu sehen, so vollkommen, dass man es nur auf die Galerie hätte hängen dürfen. Stellung der Gegenstände, Licht, Schatten, bräunlicher Teint des Ganzen, magische Haltung, alles, was man in jenen Bildern bewunderte, sah ich hier in der Wirklichkeit. « Goethe hatte also in frühester Jugend ›gelernt‹, die von der Mutter angefangenen Geschichten nach ihrem Verschwinden mit seinen Augen weiter auszumalen. Diese heute sogenannten Prozessidentifizierungen mit – hier -  ›Geschichten‹ können auch an Abgründe heranführen, die  Eissler im Kapitel Psychopathologie und Kreativität (1967) ausführlich abhandelt.

Im letzten Kapitel, Versuch über das archaische LächelnEine Phantasie (1980),  fabulierte Eissler nun ausdrücklich selber, als habe er von den von ihm zuvor untersuchten Genien Einiges mit der Folge der »teilweisen Abänderung der Ich-Struktur« internalisiert. Dergestalt mit Freud prozessidentifiziert, beginnt 1980 der Geburtstagsglückwunsch an den ersten und einzigen Lehrstuhlinhaber für Psychoanalyse in Deutschland, Wolfgang Loch, mit einer ziemlich ähnlichen Sentenz, mit der Freud 1936 seinen Brief an Romain Rolland beginnen ließ; Eissler kannte natürlich die Vorgeschichte aus Freuds Briefe 1873-1939. »Mein [Eisslers] anfänglicher Enthusiasmus wich aber einer Entmutigung, als sich nichts Rechtes bei mir einstellte, das ich Ihnen hätte widmen können. In meinem Alter fällt einem nicht leicht etwas Originelles mehr ein. « Freud begann 1936 an Rolland: » Ich [Freud] habe mich lange bemüht, etwas zu finden, was Ihrer in irgendeinem Sinne würdig wäre […] es war vergeblich; ich bin um ein Jahrzehnt älter als Sie, meine Produktion ist versiegt. « Der Rezensent glaubt, dieser Widmungsprozess, in dem sich Eissler mit Freud und Loch mit Rolland insgeheim in eins setzen, war die eigentliche versteckte Ehrerbietung Eisslers an Loch. Lochs Verdienste hatte  H. W. Loewald 1967 in einer Rezension von Lochs Voraussetzungen, Mechanismen und Grenzen des psychoanalytischen Prozesses dahingehend umrissen, daß es 22 Jahre nach dem nationalsozialistischen Kulturbruch »nun auch in Deutschland wieder möglich ist, Psychoanalyse zu betreiben« (Psyche 21, 288-295) , und dass er sie vor der im gleichen Zeitraum einsetzenden Medizinalisierung zur Philosophie hin geöffnet hatte (H. Beland). Wie Freud fiel Eissler nach der Widmung eine alte vordem nicht zur Veröffentlichung bestimmte Fantasie ein, früh ausgelöst durch das archaische Lächeln des Marmorkopfes des Kouros von Tenea, nahe Korinth, aus Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. Für Eissler war dessen archaisch genanntes Lächeln ein »grundsätzlicher Wendepunkt in der Entwicklung der westlichen Kunst, dem die Eigenart der gesamten okzidentalen Entfaltung zu verdanken ist«, nämlich der Malerei, Plastik, Architektur, Musik und Literatur. Als es einem außerordentlichen Geiste gelungen sei, auf das Fürchterliche des menschlichen Lebens, der Grässlichkeit der menschlichen Existenz - von außen sowie von innen, durch äußere Realgefahren sowie von innen durch unbeherrschte Triebe ständig bedroht zu sein - mit einem Lächeln zu reagieren, sei die Basis gelegt gewesen, auf der die ungeheure Mannigfaltigkeit des Schönen erwuchs: »dass das Leben trotzdem schön und lustvoll sei.« Es sei eine Kunst entstanden, die Tod und Schrecken verleugnet und den Menschen als das Leben freudig begrüßend darstellte. Am Beispiel der Kouros-Gestalt veranschaulicht Eissler seine Theorie des Schönen im okzidentalen Kunstkreis. Da der Schöpfer der Plastik damals nur ein männlicher Steinmetz habe sein können, entspreche der lächelnde männliche  Marmorkopf dem Lächeln eines Jünglings, »der den Gefahren und der Grässlichkeit des körperlichen Verkehrs mit Frauen entronnen ist und seine gleichgeschlechtliche Befriedigung mit einem geliebten Manne findet.  […] Die homosexuelle Beziehung würde so zu etwas Erwünschten und Ersehnten [… zur] Erfüllung eines Ideals, ohne [den] Schmerz des Andersseins [bzw. der Unähnlichkeit der Frau] und [deshalb mit] maximale[r] Sättigung des Narzissmus. «  Sobald dem griechischen Menschen diese von Eissler für nicht pathologisch gehaltene Form des Verleugnens gelungen sei, konnte sich der Mensch seinem Gegenüber als Erkennender nähern; denn diese Form des Verleugnens erschaffe eine Distanz, und damit den anderen als Objekt und sei somit die Voraussetzung dafür, Welt zu erkennen, letztlich die Voraussetzung für die Wissenschaft.  Dieses Muster auf die Frauen,  auf Medusa,  auf die etruskischen Frauenplastiken und z. B. Mona Lisa übertragend, spielt Eissler in der Folge auch an den anderen Künsten durch. Die gelingende Distanzschaffung ist mit ein Grund, weshalb die Künste den Status von Erkenntnismitteln zugesprochen bekamen und Freud aus diesen Gründen häufig darauf zurückgriff.  Der letzte Essay zu Eisslers Theorie des Schönen beschließt die zeitlosen Einblicke in ein psychoanalytisches – und eben dadurch ein in die Tiefe reichendes – Verstehen und Erklären von Kunst, Literatur und Kultur. Ein zweiter Band ist angekündigt. Wieder eine gelungene ›liebende Verehrung‹ ?

© Joachim F. Danckwardt, Tübingen

Oktober 2012:

Storck, Timo: Spiel am Werk. Eine psychoanalytisch-begriffskritische Untersuchung künstlerischer Arbeitsprozesse Göttingen (V&R unipress) 2010. 369 Seiten, €  

 

Die Kunsthistorikerin Bettina Gockel konstatierte 2010 in einer komparativen Studie, »Die Pathologisierung des Künstlers«, die 1980er und 1990er Jahre seien der »Höhepunkt der methodischen Anwendung der Psychoanalyse in der Kunst-, Kultur- und Literaturwissenschaft« gewesen. Mit dem Untertitel »Künstlerlegenden der Moderne« nahm sie Bezug auf Ernst Kris und Otto Kurz Thematik Die Legende vom Künstler (1934). Timo Storck legte im gleichen Jahr mit einer psychoanalytisch-begriffskritischen Untersuchung künstlerischer Arbeitsprozesse nicht nur eine Widerlegung dieser Annahme vor, sondern auch einen neuen vorläufigen Höhepunkt drauf.

Gockels Irrtum wird schon allein daran verdeutlicht, daß Storck seine Untersuchungen auf Autoren stützt, die zwischen den 1990er Jahren und heute intensive psychoanalytische Einzelfallstudien abgefaßt haben über zahlreiche KünstlerInnen der Gegenwart oder über zeitgenössische Gegenstände der Kunst wie Form, Raum, Zeit, ästhetischer Konflikt, Farbe, Arbeit der Bilder, schöpferischer Akt und kreativer Prozeß (z.B. E.Gattig, G.Gehrig,  H.Kraft, M.Oppermann, R.Reiche, G.Rose, G.Schneider, Ph.Soldt, Ph.Soldt&K.Nitzschmann, LTuymanns). Storcks neuer Höhepunkt besteht in seiner innovativen methodischen Anwendung der Psychoanalyse. Er ging über die intensiven und hoch informativen Einzelfallstudien hinaus. Sie dienten ihm als pilotierende Orientierung in der Materie. Zur weiteren Aufklärung künstlerischer Arbeitsprozesse wählte er 10 Transkripte von 20 vor Bildern aufgezeichneten Werkstattgesprächen und 7 Atelierdiskussionen zwischen 2004 und 2008 aus. Daran hatten sich insgesamt 20 bis 25 Künstler und jeweils circa 15 Besucher in einer Hamburger Galerie beteiligt. Die Gespräche und Diskussionen wurden nach den Regeln der »Ulmer Textbank« (E. Mergenthaler) transkribiert. Dann erfolgte eine Vorstrukturierung in Hinsicht auf Kategorienbildung der Auswertung (groundet theory) in konzeptgeleitete und empiriegeleitete Protokategorien. Schließlich wurde das Material codiert und in Gestalt einer Kombination psychoanalytisch-hermeneutischer, qualitativ-inhaltsanalytischer und computergestützter Methoden (Software Maxqda) ausgewertet. Es wurden horizontale und vertikale Analysen durchgeführt. Dieses Vorgehen und Abarbeiten füllen die zweite Hälfte des Buches. Die erste Hälfte wird in Anspruch genommen von der Entwicklung der konzeptgeleiteten Kategorien wie Nicht-Identität; Fantasieren/Spiel; Wiederholung; Angst; Sublimierung / Funktionslust; Sublimierung / Ichveränderung / Identifizierung; Sublimierung / Libidinisierung / Erogenität; Subjektivierung / Projektion; Triangulierung.

Die vorgängige Entwicklung solcher Kategorien wurde geleistet mittels  sorgfältiger, differenzierter und sehr ausführlicher Begriffs-historischer, Begriffs-konzeptioneller und Begriffs-kritischer Diskussionen der folgenden psychoanalytischen Konzepte und Konzeptzusammenhänge, die sich in den intensiven Einzelfallstudien quasi pilotierend als relevant für den künstlerischen Arbeitsprozeß abgezeichnet hatten: Dynamisch Unbewußtes, definiert als »eine auf leiblicher Widerständigkeit beruhende und sich darüber vermittelnde Bewegung der Ablenkung, Verfälschung, Negation oder Differenz«(S.176); durch Fantasieren als Ichfunktion sich fortsetzendes kindliches Spiel; insbesondere künstlerisches Fantasieren als spezifische Interaktion mit einem materialen Objekt und dessen Repräsentiertheit im Erleben des Künstlers sowie Wiederanlehnung des Fantasierens an die greif- und sichtbaren Objekte; zweiphasiger Sublimierungsprozeß, zunächst als Angst- und Unlustvermeidung in dynamischer Kompromißbildung und Erleben von narzißtischer Funktionslust sowie Affekt des Gelingens, sodann Re-libidinisierung der kompromißbildenden Tätigkeit durch Wiederholungssprozesse; psychologische Konzeptualisierung des künstlerischen Arbeitsprozesses nicht als Geburtsvorgang sondern als intersubjektiven Entwicklungsprozeß mit dem Resultat der Subjektwerdung, verstanden als Quasi-Subjektivität, d.h. als ein Objekt, das der Möglichkeit nach von anderen so erlebt werden kann, als sei es ein Subjekt, handelnd auf der Basis von Gedanken, Gefühlen, Vorstellungen und Absichten, welche in ein In-Beziehung-Stehen eingelassen sind: das Kunstwerk sei wie eine Repräsentation von Beziehungen; Ich- und Selbstrepräsentanzveränderung durch die künstlerische Aktion infolge Internalisierung der Interaktionsprozesse mit dem Kunstobjekt; zentral seien Prozeßidentifizierung und Prozeßprojektion im Dienste des künstlerischen Ichs: Prozeßidentifizierung als Internalisierung von Interaktion und Prozeßprojektion als Konstituierung von Beziehung; Heraustreten aus der künstlerischen Dyade durch Einnahme einer dritten Position und Triangulierung i.S. von Matt’s Opusfantasie.

Storck unternimmt die zu diesen Konzepten notwendigen Ausflüge in einige Kapitel der Begründung der Psychoanalyse als Wissenschaft. Ferner in die mit Freud einsetzenden Konzepte von Fantasie und Fantasieren in der Psychoanalyse. In den künstlerischen Prozeß als Objektbeziehung im Möglichkeits- und Übergangsraum. In den Sublimierungsbegriff und in die künstlerische Wiederholungsarbeit als Grundlage von Originalität und Subjektivierung. In die Identifizierung und Projektion in der wechselseitigen künstlerischen Subjektivierung und in ein psychoanalytisches Verständnis von ‚Arbeit‘. Diese Ausflüge sind Gesellenstücke der Kompendik und – nebenbei - archivalische Hebungen von zum Teil in Vergessenheit geratenen psychoanalytischen Grundlagenwerken aus den Depots der Psychoanalyse. Was ist das Resultat der Untersuchung? »Der Stellenwert der Empirie kann […] weder der einer Illustration des theoretisch Erarbeiteten noch der einer diesbezüglichen Beweisführung sein. Vielmehr kann es einzig darum gehen, mittels psychoanalytischer Methode (und weiteren Methoden [s.o.]) einen verstehenden Zugang zu den Beziehungsszenen zu gewinnen, die das [künstlerische] Material anbietet und thematisiert, und dies im Rahmen des konzeptuellen Zusammenhangs als verständliche Realisierungen abstrakt-konzeptueller Möglichkeiten erklärbar werden zu lassen.« (S.153) Dieses Fazit kann ein mit der erforderlichen Konzentration und Intensität gerüsteter Leser an einer Einzelanalyse nachvollziehen: die Untersuchung macht die vom Autor konzeptualisierten Arbeitsprozesse wahrscheinlich.

Weniger wahrscheinlich werden Überlegungen im 7. Kapitel über die Konvergenz künstlerischen Arbeitens und psychoanalytischen Arbeitens (S. 18 und S. 333-347). Sie wirken wie eine Antwort auf vermutetes Fragen nach der Relevanz dieser Forschung für die klinische Psychoanalyse. Weniger wahrscheinlich werden solche Überlegungen für den psychoanalytischen Prozeß deshalb, weil das materiale Objekt desselben kein Subjekt i. S. des künstlerischen Quasi-Subjekts ist, sein kann und darf. Denn Objekt der klinischen Psychoanalyse ist das bereits lebendige Subjekt des Anderen, handelnd auf wirklich eigener Basis von Gedanken, Gefühlen, Vorstellungen und Absichten – wie neurotisch, psychotisch, psychosomatisch und normotisch verzerrt auch immer. Vielleicht können solche vermuteten Konvergenzen vom Leser deshalb nicht ohne Widerspruch nachvollzogen werden, weil sie – im Buch wie ein Appendix wirkend - nur zu einer »Skizze einer negativen Hermeneutik und eines Mißverstehens des Leibes in der Psychoanalyse« geraten konnten. Eine andere Konvergenz ist hingegen plausibler ableitbar: Das Arbeiten in psychoanalytisch begriffenen und konzeptuell gestützten Therapieformen, wie zum Beispiel in Kunst-, Musik- und Bewegungstherapien. Das wird hochrelevant werden, wenn die in diesen therapeutischen Beziehungen entstehenden materialen Objekte (Klang, Farbe, Form, Bewegung) als Selbstobjekte aufgefaßt werden und die Patienten darüber mit sich in integrierende Berührung gelangen. Das Sprechen und die Sprache im psychoanalytischen Prozeß (Sprachklang, Sprachbild, Sprachbewegung) waren bisher so noch nicht systematisch untersucht, geschweige denn als Selbstobjekte aufgefaßt worden. Der durch das vorliegende Werk neugierig gewordene und inspirierte Leser erwartet zu diesen Kapiteln Fortführungen. 


©Joachim F. Danckwardt, Tübingen


November 2012

Hermanns, Ludger M (Hrsg).: Psychoanalyse in Selbstdarstellungen Band IX. Beiträge von Peter Dettmering, Tilo Held, Hans Müller-Braunschweig, Evelyne A. Schwaber Frankfurt (Brandes & Apsel) 2012. 258 Seiten, € 24,90

Der Herausgeber der vor 20 Jahren gestarteten Buchreihe, Ludger M. Hermanns, ist wohlbekannt von seinen zahlreiche Publikationen zur Geschichte der Psychoanalyse, insbesondere 2009 zusammen mit E. Falzeder als Herausgeber des vollständigen Briefwechsels Sigmund Freud-Karl Abraham. Als Dozent und Archivar am Berliner Psychoanalytischen Karl-Abraham-Institut, als Vorsitzender des Archivs zur Geschichte der Psychoanalyse sowie als Mitherausgeber des Jahrbuchs der Psychoanalyse ist er vorzüglich sachverständig für die Herausgabe des nunmehr neunten Bandes der Reihe. Darin präsentiert er keine Autobiographien sondern die Ergobiografien von vier renommierten Psychoanalytikern und einer Psychoanalytikerin sowie deren beruflichen Lebenswege. In eindringlich geschilderten Arbeitslebensläufen und Lebenswerken der 1926, 1933, 1934 und1838 Geborenen spiegeln sich frühe Stadien der Entwicklung, der Zerstörung, des erneuten Aufbruchs, der Weiterentwicklung und Anwendung der Psychoanalyse in einem Jahrhundert voller Kulturbrüche. Dies wird in Hans Müller-Braunschweigs persönlicher Zusammenschau zum Thema »Nazi-Zeit, Carl Müller-Braunschweig und die Psychoanalyse« besonders eindrucksvoll entwickelt. 

Mit dem Band liegt ein unermesslicher Schatz von insgesamt 52 Selbstdarstellungen vor. Sie sind der wissenschaftlichen Auswertung zugänglich beispielsweise zu Fragen der Bezogenheit von Leben und Werk, der Bezogenheit von eigenen frühen Entwicklungsverstörungen (z.B. Adoption, Kriegsausbruch, berufliche narzißtische Projektion von Eltern, NS-Verfolgung) und Ausbildungsschicksal bzw. endgültige berufliche Spezialisierung sowie zu Fragen der Determinanten von Konkurrenz und Komplementarität zwischen (Sozial-)Psychiatrie, Psychoanalyse und Psychotherapien in ihren verschiedenen Anwendungsfeldern und schließlich zwischen Psychoanalyse und Kulturanalyse. Den Rezensenten drängt es, schon an dieser Stelle einen der Schätze heben: Überraschenderweise gestattet die Zusammenstellung des vorliegenden Bandes eine eindrucksvolle Komparatistik. Dadurch, daß Evelyne Schwaber ihre lebenslange »Reise ins Zuhören« schildert und das Gebiet der genuinen psychoanalytischen Datengewinnung, die Suche nach der »maßgebenden psychischen Realität«, detailgenau begründet und ausführt, stellt sie implizit eine Referenzgröße auf. Diese erlaubt dem Leser Abgleiche mit der Datengewinnung in den drei übrigen geschilderten psychoanalytisch abgeleiteten therapeutischen Feldern: im (Sozial-)psychiatrischen Bereich (Thilo Held: Psychiatrie im 13. Arrondissement und in der Rheinischen Landesklinik Bonn), im Bereich der Kunst-, Körper- und Bewegungstherapie sowie Filmarbeit in der frühen Mutter-Kind-Beziehung (Hans Müller-Braunschweig) und im Bereich der Literatur- und Filmanalyse (Peter Dettmering). Im Gegensatz zu diesen Gegenständen des Zuhörens / Zusehens und der Aufmerksamkeit richtet sich die gleichschwebende Aufmerksamkeit idealiter auf die unbewußte innere psychische Realität und deren unbewußte innere Bedeutung, die Verhalten motivieren und steuern. In den von der Psychoanalyse abgeleiteten Verfahren hingegen richtet sich das Zuhören stärker theoriegleitet entweder auf die schon vermutete psychische Realität  oder auf erinnerte Realität und deren schon vermutete Bedeutung. Dabei benutzen sie Psychoanalyse eher als Raster, in das die erhobenen Daten eingeordnet werden. Das gilt auch für psychoanalytisch gestützte oder psychoanalytisch informierte Traumatherapien. Man untersucht schwerpunktmäßig nicht die unbewußten innerpsychischen Prozesse auf ihre unbewußten Bedeutungen hin, sondern benutzt die mitgeteilten historischen (Kon-)Texte oder Erlebnisse mit den Selbstobjekten (Klang, Form, Bild, Bewegung in der körperorientierten Psychotherapie) als Bedeutungsraster, in das sich Symptome einordnen lassen und so die therapeutischen Techniken ausrichtet. Die Zusammenstellung der vier Autoren erlaubt also eine komparatistische Kategorisierung psychoanalytisch-psychotherapeutischen Arbeitens nach  den verschiedenen Modi des Zuhörens. Das ist eine hilfreiche Orientierung im Babel der gegenwärtigen psychotherapeutischen Verfahren. Sehr eindrucksvoll sind in diesem Zusammenhang auch Schilderungen des Ausbildungserlebens auf dem Weg zur Kunst des Zuhörens. Sie können dann zu extremen Belastungen oder gar zum Scheitern der Ausbildung führen, wenn sie erlebt wird als Resultat narzißtischer Projektionen von Lehranalytikern, Supervisoren und Institutsphilosophien auf Kandidaten. Dem neunten Band der »Psychoanalyse in Selbstdarstellungen« sind ausführliche Lektüre und Diskussionen in Ausbildungs- und Weiterbildungsinstitutionen zu wünschen.  

©Joachim F. Danckwardt, Tübingen

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