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R E Z E N S I O N E N  über Werke von

H. Beland.  E. Bernays.  W.Bister.   J. Crary.   J. Dupont.   K. Fink.   E.Furman. L. Reich -Rubin.  R. Reiche.  A. Haynal.  H.König.  A.Koschorke.   L. Rosenkötter.  E. Mahler.  U. Moser.   A.Ornstein.  P.Ornstein.  K.Weber.  L.Wurmser.

Nach Jahreszahl geordnet

Joachim F. Danckwardt (Tübingen) In: LUZIFER-AMOR 2012 :

Hermanns, Ludger M (Hrsg).: Psychoanalyse in Selbstdarstellungen Band IX. Beiträge von Peter Dettmering, Tilo Held, Hans Müller-Braunschweig, Evelyne A. Schwaber Frankfurt (Brandes & Apsel) 2012. 258 Seiten, € 24,90

 

Der Herausgeber der vor 20 Jahren gestarteten Buchreihe, Ludger M. Hermanns, ist wohlbekannt von seinen zahlreiche Publikationen zur Geschichte der Psychoanalyse, insbesondere 2009 zusammen mit E. Falzeder als Herausgeber des vollständigen Briefwechsels Sigmund Freud-Karl Abraham. Als Dozent und Archivar am Berliner Psychoanalytischen Karl-Abraham-Institut, als Vorsitzender des Archivs zur Geschichte der Psychoanalyse sowie als Mitherausgeber des Jahrbuchs der Psychoanalyse ist er vorzüglich sachverständig für die Herausgabe des nunmehr neunten Bandes der Reihe. Darin präsentiert er keine Autobiographien sondern die Ergobiografien von vier renommierten Psychoanalytikern und einer Psychoanalytikerin sowie deren beruflichen Lebenswege. In eindringlich geschilderten Arbeitslebensläufen und Lebenswerken der 1926, 1933, 1934 und1838 Geborenen spiegeln sich frühe Stadien der Entwicklung, der Zerstörung, des erneuten Aufbruchs, der Weiterentwicklung und Anwendung der Psychoanalyse in einem Jahrhundert voller Kulturbrüche. Dies wird in Hans Müller-Braunschweigs persönlicher Zusammenschau zum Thema »Nazi-Zeit, Carl Müller-Braunschweig und die Psychoanalyse« besonders eindrucksvoll entwickelt.

 

Mit dem Band liegt ein unermesslicher Schatz von insgesamt 52 Selbstdarstellungen vor. Sie sind der wissenschaftlichen Auswertung zugänglich beispielsweise zu Fragen der Bezogenheit von Leben und Werk, der Bezogenheit von eigenen frühen Entwicklungsverstörungen (z.B. Adoption, Kriegsausbruch, berufliche narzißtische Projektion von Eltern, NS-Verfolgung) und Ausbildungsschicksal bzw. endgültige berufliche Spezialisierung sowie zu Fragen der Determinanten von Konkurrenz und Komplementarität zwischen (Sozial-)Psychiatrie, Psychoanalyse und Psychotherapien in ihren verschiedenen Anwendungsfeldern und schließlich zwischen Psychoanalyse und Kulturanalyse. Den Rezensenten drängt es, schon an dieser Stelle einen der Schätze heben: Überraschenderweise gestattet die Zusammenstellung des vorliegenden Bandes eine eindrucksvolle Komparatistik. Dadurch, daß Evelyne Schwaber ihre lebenslange »Reise ins Zuhören« schildert und das Gebiet der genuinen psychoanalytischen Datengewinnung, die Suche nach der »maßgebenden psychischen Realität«, detailgenau begründet und ausführt, stellt sie implizit eine Referenzgröße auf. Diese erlaubt dem Leser Abgleiche mit der Datengewinnung in den drei übrigen geschilderten psychoanalytisch abgeleiteten therapeutischen Feldern: im (Sozial-)psychiatrischen Bereich (Thilo Held: Psychiatrie im 13. Arrondissement und in der Rheinischen Landesklinik Bonn), im Bereich der Kunst-, Körper- und Bewegungstherapie sowie Filmarbeit in der frühen Mutter-Kind-Beziehung (Hans Müller-Braunschweig) und im Bereich der Literatur- und Filmanalyse (Peter Dettmering). Im Gegensatz zu diesen Gegenständen des Zuhörens / Zusehens und der Aufmerksamkeit richtet sich die gleichschwebende Aufmerksamkeit idealiter auf die unbewußte innere psychische Realität und deren unbewußte innere Bedeutung, die Verhalten motivieren und steuern. In den von der Psychoanalyse abgeleiteten Verfahren hingegen richtet sich das Zuhören stärker theoriegleitet entweder auf die schon vermutete psychische Realität  oder auf erinnerte Realität und deren schon vermutete Bedeutung. Dabei benutzen sie Psychoanalyse eher als Raster, in das die erhobenen Daten eingeordnet werden. Das gilt auch für psychoanalytisch gestützte oder psychoanalytisch informierte Traumatherapien. Man untersucht schwerpunktmäßig nicht die unbewußten innerpsychischen Prozesse auf ihre unbewußten Bedeutungen hin, sondern benutzt die mitgeteilten historischen (Kon-)Texte oder Erlebnisse mit den Selbstobjekten (Klang, Form, Bild, Bewegung in der körperorientierten Psychotherapie) als Bedeutungsraster, in das sich Symptome einordnen lassen und so die therapeutischen Techniken ausrichtet. Die Zusammenstellung der vier Autoren erlaubt also eine komparatistische Kategorisierung psychoanalytisch-psychotherapeutischen Arbeitens nach  den verschiedenen Modi des Zuhörens. Das ist eine hilfreiche Orientierung im Babel der gegenwärtigen psychotherapeutischen Verfahren. Sehr eindrucksvoll sind in diesem Zusammenhang auch Schilderungen des Ausbildungserlebens auf dem Weg zur Kunst des Zuhörens. Sie können dann zu extremen Belastungen oder gar zum Scheitern der Ausbildung führen, wenn sie erlebt wird als Resultat narzißtischer Projektionen von Lehranalytikern, Supervisoren und Institutsphilosophien auf Kandidaten. Dem neunten Band der »Psychoanalyse in Selbstdarstellungen« sind ausführliche Lektüre und Diskussionen in Ausbildungs- und Weiterbildungsinstitutionen zu wünschen. 

Joachim F. Danckwardt, Tübingen


Joachim F. Danckwardt (Tübingen) In: PSYCHE 2012 (im Druck):

Storck, Timo: Spiel am Werk. Eine psychoanalytisch-begriffskritische Untersuchung künstlerischer Arbeitsprozesse Göttingen (V&R unipress) 2010. 369 Seiten, €  

 

Die Kunsthistorikerin Bettina Gockel konstatierte 2010 in einer komparativen Studie, »Die Pathologisierung des Künstlers«, die 1980er und 1990er Jahre seien der »Höhepunkt der methodischen Anwendung der Psychoanalyse in der Kunst-, Kultur- und Literaturwissenschaft« gewesen. Mit dem Untertitel »Künstlerlegenden der Moderne« nahm sie Bezug auf Ernst Kris und Otto Kurz Thematik Die Legende vom Künstler (1934). Timo Storck legte im gleichen Jahr mit einer psychoanalytisch-begriffskritischen Untersuchung künstlerischer Arbeitsprozesse nicht nur eine Widerlegung dieser Annahme vor, sondern auch einen neuen vorläufigen Höhepunkt drauf.

Gockels Irrtum wird schon allein daran verdeutlicht, daß Storck seine Untersuchungen auf Autoren stützt, die zwischen den 1990er Jahren und heute intensive psychoanalytische Einzelfallstudien abgefaßt haben über zahlreiche KünstlerInnen der Gegenwart oder über zeitgenössische Gegenstände der Kunst wie Form, Raum, Zeit, ästhetischer Konflikt, Farbe, Arbeit der Bilder, schöpferischer Akt und kreativer Prozeß (z.B. E.Gattig, G.Gehrig,  H.Kraft, M.Oppermann, R.Reiche, G.Rose, G.Schneider, Ph.Soldt, Ph.Soldt&K.Nitzschmann, LTuymanns). Storcks neuer Höhepunkt besteht in seiner innovativen methodischen Anwendung der Psychoanalyse. Er ging über die intensiven und hoch informativen Einzelfallstudien hinaus. Sie dienten ihm als pilotierende Orientierung in der Materie. Zur weiteren Aufklärung künstlerischer Arbeitsprozesse wählte er 10 Transkripte von 20 vor Bildern aufgezeichneten Werkstattgesprächen und 7 Atelierdiskussionen zwischen 2004 und 2008 aus. Daran hatten sich insgesamt 20 bis 25 Künstler und jeweils circa 15 Besucher in einer Hamburger Galerie beteiligt. Die Gespräche und Diskussionen wurden nach den Regeln der »Ulmer Textbank« (E. Mergenthaler) transkribiert. Dann erfolgte eine Vorstrukturierung in Hinsicht auf Kategorienbildung der Auswertung (groundet theory) in konzeptgeleitete und empiriegeleitete Protokategorien. Schließlich wurde das Material codiert und in Gestalt einer Kombination psychoanalytisch-hermeneutischer, qualitativ-inhaltsanalytischer und computergestützter Methoden (Software Maxqda) ausgewertet. Es wurden horizontale und vertikale Analysen durchgeführt. Dieses Vorgehen und Abarbeiten füllen die zweite Hälfte des Buches. Die erste Hälfte wird in Anspruch genommen von der Entwicklung der konzeptgeleiteten Kategorien wie Nicht-Identität; Fantasieren/Spiel; Wiederholung; Angst; Sublimierung / Funktionslust; Sublimierung / Ichveränderung / Identifizierung; Sublimierung / Libidinisierung / Erogenität; Subjektivierung / Projektion; Triangulierung.

Die vorgängige Entwicklung solcher Kategorien wurde geleistet mittels  sorgfältiger, differenzierter und sehr ausführlicher Begriffs-historischer, Begriffs-konzeptioneller und Begriffs-kritischer Diskussionen der folgenden psychoanalytischen Konzepte und Konzeptzusammenhänge, die sich in den intensiven Einzelfallstudien quasi pilotierend als relevant für den künstlerischen Arbeitsprozeß abgezeichnet hatten: Dynamisch Unbewußtes, definiert als »eine auf leiblicher Widerständigkeit beruhende und sich darüber vermittelnde Bewegung der Ablenkung, Verfälschung, Negation oder Differenz«(S.176); durch Fantasieren als Ichfunktion sich fortsetzendes kindliches Spiel; insbesondere künstlerisches Fantasieren als spezifische Interaktion mit einem materialen Objekt und dessen Repräsentiertheit im Erleben des Künstlers sowie Wiederanlehnung des Fantasierens an die greif- und sichtbaren Objekte; zweiphasiger Sublimierungsprozeß, zunächst als Angst- und Unlustvermeidung in dynamischer Kompromißbildung und Erleben von narzißtischer Funktionslust sowie Affekt des Gelingens, sodann Re-libidinisierung der kompromißbildenden Tätigkeit durch Wiederholungssprozesse; psychologische Konzeptualisierung des künstlerischen Arbeitsprozesses nicht als Geburtsvorgang sondern als intersubjektiven Entwicklungsprozeß mit dem Resultat der Subjektwerdung, verstanden als Quasi-Subjektivität, d.h. als ein Objekt, das der Möglichkeit nach von anderen so erlebt werden kann, als sei es ein Subjekt, handelnd auf der Basis von Gedanken, Gefühlen, Vorstellungen und Absichten, welche in ein In-Beziehung-Stehen eingelassen sind: das Kunstwerk sei wie eine Repräsentation von Beziehungen; Ich- und Selbstrepräsentanzveränderung durch die künstlerische Aktion infolge Internalisierung der Interaktionsprozesse mit dem Kunstobjekt; zentral seien Prozeßidentifizierung und Prozeßprojektion im Dienste des künstlerischen Ichs: Prozeßidentifizierung als Internalisierung von Interaktion und Prozeßprojektion als Konstituierung von Beziehung; Heraustreten aus der künstlerischen Dyade durch Einnahme einer dritten Position und Triangulierung i.S. von Matt’s Opusfantasie.

Storck unternimmt die zu diesen Konzepten notwendigen Ausflüge in einige Kapitel der Begründung der Psychoanalyse als Wissenschaft. Ferner in die mit Freud einsetzenden Konzepte von Fantasie und Fantasieren in der Psychoanalyse. In den künstlerischen Prozeß als Objektbeziehung im Möglichkeits- und Übergangsraum. In den Sublimierungsbegriff und in die künstlerische Wiederholungsarbeit als Grundlage von Originalität und Subjektivierung. In die Identifizierung und Projektion in der wechselseitigen künstlerischen Subjektivierung und in ein psychoanalytisches Verständnis von ‚Arbeit‘. Diese Ausflüge sind Gesellenstücke der Kompendik und – nebenbei - archivalische Hebungen von zum Teil in Vergessenheit geratenen psychoanalytischen Grundlagenwerken aus den Depots der Psychoanalyse. Was ist das Resultat der Untersuchung? »Der Stellenwert der Empirie kann […] weder der einer Illustration des theoretisch Erarbeiteten noch der einer diesbezüglichen Beweisführung sein. Vielmehr kann es einzig darum gehen, mittels psychoanalytischer Methode (und weiteren Methoden [s.o.]) einen verstehenden Zugang zu den Beziehungsszenen zu gewinnen, die das [künstlerische] Material anbietet und thematisiert, und dies im Rahmen des konzeptuellen Zusammenhangs als verständliche Realisierungen abstrakt-konzeptueller Möglichkeiten erklärbar werden zu lassen.« (S.153) Dieses Fazit kann ein mit der erforderlichen Konzentration und Intensität gerüsteter Leser an einer Einzelanalyse nachvollziehen: die Untersuchung macht die vom Autor konzeptualisierten Arbeitsprozesse wahrscheinlich.

Weniger wahrscheinlich werden Überlegungen im 7. Kapitel über die Konvergenz künstlerischen Arbeitens und psychoanalytischen Arbeitens (S. 18 und S. 333-347). Sie wirken wie eine Antwort auf vermutetes Fragen nach der Relevanz dieser Forschung für die klinische Psychoanalyse. Weniger wahrscheinlich werden solche Überlegungen für den psychoanalytischen Prozeß deshalb, weil das materiale Objekt desselben kein Subjekt i. S. des künstlerischen Quasi-Subjekts ist, sein kann und darf. Denn Objekt der klinischen Psychoanalyse ist das bereits lebendige Subjekt des Anderen, handelnd auf wirklich eigener Basis von Gedanken, Gefühlen, Vorstellungen und Absichten – wie neurotisch, psychotisch, psychosomatisch und normotisch verzerrt auch immer. Vielleicht können solche vermuteten Konvergenzen vom Leser deshalb nicht ohne Widerspruch nachvollzogen werden, weil sie – im Buch wie ein Appendix wirkend - nur zu einer »Skizze einer negativen Hermeneutik und eines Mißverstehens des Leibes in der Psychoanalyse« geraten konnten. Eine andere Konvergenz ist hingegen plausibler ableitbar: Das Arbeiten in psychoanalytisch begriffenen und konzeptuell gestützten Therapieformen, wie zum Beispiel in Kunst-, Musik- und Bewegungstherapien. Das wird hochrelevant werden, wenn die in diesen therapeutischen Beziehungen entstehenden materialen Objekte (Klang, Farbe, Form, Bewegung) als Selbstobjekte aufgefaßt werden und die Patienten darüber mit sich in integrierende Berührung gelangen. Das Sprechen und die Sprache im psychoanalytischen Prozeß (Sprachklang, Sprachbild, Sprachbewegung) waren bisher so noch nicht systematisch untersucht, geschweige denn als Selbstobjekte aufgefaßt worden. Der durch das vorliegende Werk neugierig gewordene und inspirierte Leser erwartet zu diesen Kapiteln Fortführungen. 

Joachim F. Danckwardt (Tübingen)  In: PSYCHE  2012

Beland, Hermann: Unaushaltbarkeit. Psychoanalytische Aufsätze II zu Theorie, Klinik und Gesellschaft. Gießen (Psychosozial-Verlag) 2011, 500 Seiten. € 46,90

 Zeitnah zum ersten Auswahlband seiner Schriften von 2008, Die Angst vor Denken und Tun, ließ Hermann Beland 2011 die Veröffentlichung des zweiten Bandes, Unaushaltbarkeit,  folgen. Auf 500 Seiten sind 22 Kapitel versammelt. Sie werden in drei thematischen Schwerpunkten integriert: Zur Theorieentwicklung, Zur Klinik und Zur Gesellschaft. Es sind Aufsätze der letzten 20 Jahre. Drei Kapitel stammen aus der Zeit Anfang der 1970er-Jahre. Alle Beiträge waren bisher sehr verstreut veröffentlicht und entzogen sich so der Rezeption als Lebenswerk eines seit über 40 Jahren praktizierenden, forschenden und international renommierten Psychoanalytikers der zweiten Generation nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Wiederaufbau der Psychoanalyse in Deutschland nach dem nationalsozialistischen Kulturbruch.

Der Band trägt den Titel »Unaushaltbarkeit« und benennt damit ein Grundthema. Es ist die »Unaushaltbarkeitserfahrung« als unbewußtes Motiv des Menschen, sich von der Wirklichkeit abzuwenden, »weil er sie – ihr Ganzes oder Stücke derselben – unerträglich findet«. Beland begreift Sigmund Freuds Auslegung der »subjektiven autodestruktiven Verarbeitung« und unbewußt steuernden Überzeugung als »semiotische Struktur« und subjektive Grenze der Angst- und Schmerztoleranz, die objektiver Auslöser »angeborener« Abwehrmechanismen seien.

Schlägt man das Buch ohne diese zentrale Einstimmung auf Belands Grundthema von der »strukturierenden Funktion der Psyche«, ihren »semiotischen Strukturen« und »unbewußt steuernden Überzeugungen« auf, dann stößt man auf sehr disparate Themen. Ihre Untertitel haben es in sich und bringen rasch auf den Geschmack. Hier nur die ersten, um die Mannigfaltigkeit und den thematischen Reichtum wiederzugeben: (1) Die regulativen Strukturen des psychischen Systems. Zum kritischen Mechanismus ihrer Einsetzung; (2) Jedes Gefühl ist die Folge einer Situationsdeutung. Klinischer wie theoretischer Grundsatz jeder psychoanalytischen Affekttheorie; (3) Unbewußte Phantasien. Protomentale und symbolische Beziehungsverständnisse als dynamische Strukturen des Systems Psyche; (4) Acheronta movebo. 100 Jahre Psychoanalyse des Traums; (7) Freuds Todestriebhypothese – eine zukunftsoffene Eckdatentheorie? Erklärungs- und Arbeitswert anhand klinischer und theoretischer Beispiele; (8) Wahrheitsfunktion, Anschaungsformen, Existenzbegriff, Theorie des Denkens. Bion für das philosophische Interesse.

Im achtseitigen Vorwort stellt Beland einige verbindende Hauptlinien vor. Denenzufolge kann der Leser seine Auswahl auch gänzlich anders treffen. Er kann zum Beispiel alle jene Aufsätze ansteuern, die um das Gesamtwerk Wilfred Bions kreisen, also zu den Kapiteln 2 und 8 auch das Kapitel 14, Transformation in Halluzinose. Eine mathematikgeschichtliche Annäherung an Bions Transformationen. Oder er kann sich die Aufsätze 2 und 15: Was ist und wozu entsteht psychoanalytische Identität  sowie 12 : Technische Probleme bei projektiver Abwehr narzisstischer Spannungen (»Vorwurfspatienten«) aneignen und sich damit eher fallbezogene Hilfe holen. Beland fand nämlich nach seiner Ausbildung zum Psychoanalytiker 1967 mit neuen Patienten in der Supervision und in der Literatur häufig weniger Hilfe, als er benötigte, und deshalb entstand mancher Aufsatz als eine Art wissenschaftliche Selbstsupervision. Nach und nach gingen dann übergeordnete Arbeiten daraus hervor. Vor allem über den nach und neben Freud wichtigsten Theoretiker der Psychoanalyse, Wilfred Bion, dem »großen Psychologen der psychotischen Kommunikation und […] Entdecker der Basisvorgänge des normalen Denkens« (110), der aber im deutschen Sprachraum immer noch Vermittlung brauche, »wie alle Pioniere des Denkens«, weil Bion ein zentrales philosophisches Interesse hatte.

Belands Originalbeiträge zur zeitgenössischen und zukünftigen Psychoanalyse sind  Arbeiten über Begriffs- und Konzeptgeschichte. Wie schon beim Allmachtsbegriff  im ersten Band, Die Angst vor Denken und Tun, geht Beland im vorliegenden Band bei der  Traumtheorie und bei der unbewußte Phantasie (in: Unbewußte Phantasien. Protomentale und symbolische Beziehungsverständnisse als dynamische Strukturen des Systems Psyche) methodisch ähnlich vor.

Wegweisend sind Belands Arbeiten zu einem weiteren integralen Schwerpunkt, die Symbolbildung und Symbolisierung: (5)Psychoanalytische Psychosomatik. Die schwere Theoretische Geburt des psychosomatischen Menschen; (6) Sprache, Ödipus, Symbol. Elemente einer psychoanalytischen Sprachtheorie; (20) Religion und Gewalt – Gewalt im Begriff. Soziale Gewalt durch Realitätsverzerrung in theologischen Begriffsbildung; (11) ‚Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?’ Psychische Agonie durch Nichtverstehen; (17) Todesangst am Anfang des Lebens – Körperlich Getrenntheit und die Gesellschaftliche Induktion von Angst: Psychoanalytischer Versuch über die Mergelgrube und Der Knabe im Moor von Annette von Droste-Hülshoff; (19) Die Gesellschaftliche Produktion von Traumen aus der Sicht des 18. Jahrhunderts. Interpretation von Tristam Shandy von Laurence Sterne; (21) Die politische Funktion der sophokleischen Tragödien: Anerkennung transgenerationaler Ödipalität.  Zu den Beiträgen zur zeitgenössischen Psychoanalyse zählt auch Belands Theorie von den semiotischen Strukturen. Er fasst sie als »komplexe Symbole« auf und als »Einsetzungen jener überwiegend nicht bewußten, letztlich ödipal strukturierten Überzeugungen, die das allen Menschen gemeinsame, aber besonders auch das individuelle, schicksalsverarbeitende ‚Rückgrat’ des seelischen Lebens bilden, […] die [im psychoanalytische Prozeß] übertragen werden und […] im günstigsten Fall durch realistische Überzeugungen ersetzt werden können. Strukturveränderung ist Veränderung von übertragener Bedeutung, so dass realistische semiotische Strukturen gebildet werden können […] Die Theorie der Einsetzung steuernder Überzeugungen begründet auch die [außerordentlich wichtige] ‚langsame Veränderungsrate’ der psychischen Strukturen (Rapaport 1959, 61), die die Dauer unserer Behandlungen bestimmt (Durcharbeiten) «  und – der Rezensent darf hinzufügen - auch die Frequenz der psychoanalytischen Sitzung pro Woche.

Alle Arbeiten stellen einen anspruchsvollen Standard an Belesenheit und enzyklopädisch zu bezeichnendem psychoanalytischen Wissen auf. Ihnen liegt die Zielvorstellung zugrunde, »auf einer höheren systemtheoretischen Abstraktionsstufe Freud und die Ichpsychologie, Winnicott, Klein, Segal, Rosenfeld und Bion zu integrieren sowie die psychoanalytische Behandlungstheorie neu zu beschreiben« (11). Das erweist sich ebenfalls für solche Studien, die sich erneut mit unvollendet gebliebenen Konzepten in der Psychoanalyse beschäftigen, um sie endlich voranzubringen. Als Beispiel sei das 7. Kapitel (145-166) ausgewählt. Darin untersucht Beland die jüngere Konzeptgeschichte der Freudschen Lebens-Todestriebhypothese. Die amerikanische Ich-Psychologie lehnte die Todestriebhypothese noch 1980 ab: »Insoweit Freud in Jenseits des Lustprinzips die Psychoanalyse in ein Kontinuum stellt, dessen Bezugspunkt nicht die Psyche, sondern die lebende Materie ist, geht ihm der spezifische Gegenstand der Psychoanalyse verloren«, schrieb Loewald damals. Im Gegensatz dazu hatte die kleinianische und bionianische Psychoanalyse in Europa und Südamerika sie weiter genutzt. In Etappen kam es zu ersten metaanalytischen Neubetrachtungen der von Freud angeführten Krankheitsbilder und klinischen Vignetten, darunter seine berühmte Beobachtung eines kindlichen Garnrollenspiels. Metaanalysen sind Zusammenfassungen von Primäruntersuchungen bzw. empirischen Einzelergebnissen zu Metadaten, bei denen auf dem Weg nicht statistischer subjektiver Einschätzungen versucht wird, aus den Inhalten der Primärstudien Schlüsse zu ziehen. Psychoanalytiker in der Nachfolge von Melanie Klein hatten begonnen, neues analytisches klinisches Fallmaterial zu sammeln. Sie hatten sich dabei, insbesondere Hanna Segal, zweier Setzungen bedient. Zum einen verzichteten sie auf die umstrittenen biologischen Hilfsannahmen der Freudschen Beweisführung sowie auf die lebende organische Materie als Bezugspunkt. Zum Zweiten wollten die neuen Forschungsansätze auch gar nicht mehr die Existenz des Todestriebs an sich beweisen, sondern sie fokussierten auf Untersuchungen des Erklärungs- und Arbeitswertes der Todestriebhypothese und auf weitere qualitative Metaanalysen der klinischen und theoretischen Beispiele. Bei ihnen handelte es sich vornehmlich um Beiträge von Betty Joseph (1975), Sidney Klein (1974), Donald Meltzer (1968; 1979), Herbert Rosenfeld (1971) und Hanna Segal (1993). Ihre Arbeiten und zahlreiche Beiträge anderer Autoren wie u. a. Roger Dorey, André Green, Jean Laplanche wurden auf dem EPF-Symposium über den Todestrieb in Marseille 1984 metaanalytisch breit diskutiert. Das Ergebnis war eher uneinheitlich, wie ein Symposiumsbericht von Pere Folch und Terttu Eskelinen de Folch 1984 aufdeckte. Mit dem vorliegenden Kapitel hatte nun Beland 2006 einen neuen Anlauf unternommen. Er überprüfte metaanalytisch Falldarstellungen von Hanna Segal (1993), Herbert Rosenfelds Anwendung der Theorie des destruktiven Narzißmus auf Vernichtungsantisemitismus und Völkermord (1971) sowie Wilfred Bions fünfte klinische Vignette aus Attacks on Linking (1990). In diesen Abhandlungen griff Bion Freuds zentrales Merkmal des Lebenstriebs, die »Bindung«, und das des Todestriebs, ihr Zerreißen – in Bions Terminologie minus K – auf. Belands Fazit lautet: »Freuds dritte Triebtheorie wurde in den vergangenen 80 Jahren weiterentwickelt. Sie könnte [...] neu geschrieben werden. Sie hat in den neu erforschten psychologischen Bereichen einen hohen Erklärungswert. Sie hatte [...] einen außerordentlich hohen Gebrauchswert für die psychoanalytische Technik. Sie ermöglichte therapeutische Fortschritte bei vordem unbehandelbaren Pathologien« (166). Er fügt hinzu, daß Bion vermutlich derjenige hätte sein können, dem diese Aufgabe tatsächlich gelungen wäre. Für den Rezensenten war bemerkenswert, daß – eigentlich umgekehrt - Freud Belands Überlegungen und Ableitungen als hochwirksam validiert. Denn in seiner Arbeit über Die Verneinung von 1925  ging Freud 5 Jahre nach der Aufstellung der Lebens-Todestriebhypothese genau so vor, wie es seine Nachfolger 30 Jahre später vorgeschlagen haben: Er verzichtete schon so früh auf die biologischen Hilfsannahmen und untersuchte den Erklärungs- und Arbeitswert der Lebens-Todestriebhypothese für die Entwicklung seiner Denk- und Symboltheorie. Ich glaube, eine derartige retroaktive Zustimmung aus den Stammbüchern der Psychoanalyse wird nur wenigen Autoren zuteil. Beland hat mit dieser Studie eine wichtige Trittstufe in die Erforschung der Gewaltbereitschaft eingefügt. Mit einer neueren Studie in Kapitel 20, Religion und Gewalt – Gewalt im Begriff. Soziale Gewalt durch Realitätsverzerrung in theologischen Begriffsbildungen, setzt er eine weitere darüber: er untersucht die Bedeutung der depressiven Position (Klein/Bion). »Vor jedem Gewaltausbruch geht es um die Regression von der depressiven Position, soweit die Gesellschaft sie in einem großen Teil der Bevölkerung erreicht hatte, zur paranoiden Spaltung und Selbstidealisierung und zur Projektion des eigenen Übels. Für jeden Gewaltausbruch des empörten Denkens [und für die psychische Gewaltanwendung] gilt das Gleiche (398) [aufgrund der] intrinsischen Gewalt gestörten Denkens« (400). Beland versucht dies anhand der Untersuchung über die Anfänge des Christentums, z. B. am Johannes-Evangelium, nachzuweisen: »Die Regression von der depressiven Position zum paranoiden Denken geschah bei den Führern der neuen Religion der Liebe und der Gewaltlosigkeit bereits am Anfang (401)« und Beland versammelt mindestens »sechs paranoide Einstellungen und Vorurteile, die für christliche Wahrheiten gehalten werden und vom Dogma der Verbalinspiration gedeckt sein sollen (403)«. Eine Änderung kann nur erreicht werden, wenn die Fähigkeit, eigene Aggressionen anzuerkennen, ermöglicht wird »durch beginnende Einsicht in die Motive und durch bewusste Vorstellung der Folgen eigener Handlungen für das Selbst und für andere« (421) sowie  durch die »Arbeitsanforderung«, »den Trauerinhalt  des [durch die Einsicht generierten] Verlustes des eigenen Gutseins« (454; 456; 457;458) [und] »der eigenen kollektiven guten Identität« (455) zu realisieren. Das wird im letzten Kapitel »Kollektive Trauer. Wer oder Was befreit ein Kollektiv zu seiner Trauer? « ausgeführt. Psychoanalytische Forschung auf dem Gebiet der Gewaltbereitschaft müsste sich demnach auf die Erkundung zweier entscheidender Bereiche erstrecken: auf die Regressionstendenz von der depressiven Position weg einerseits und andererseits implizit damit auf die Disposition, die depressive Position noch gar nicht genügend oder nicht gesichert genug erreicht zu haben, einzeln und im Kollektiv. Auf dem Wege hierzu empfiehlt Beland Orientierung an Bions Theorie des Denkens, deren Relevanz er noch einmal mit prägnanter Klarheit ohne Vereinfachen vor Augen führte (420).  Hier bleibt Beland einem Freudschen Grundsatz treu: »Vereinfachen ist sehr lobenswert, aber man darf der Einfachheit nicht die Wahrheit opfern. Die Wahrheit scheint zu sein, daß die Welt etwas sehr Kompliziertes ist«. Belands gehaltvolle Erträge seiner Lebensarbeit des »Aneignens, Integrierens und Forschens« in der Psychoanalyse verdienen angeregte Leserschaften, weiterführende Diskussionen und inspirierte Initiativen. 


Joachim F. Danckwardt, März 2010

Albrecht Koschorke: Die Heilige Familie und ihre Folgen. Ein Versuch
Frankfurt: Fischer. 3. Auflage 2001, 240 S. 

Der SPIEGEL-Titel der Ausgabe vom 17.11.1997 lautete »Die Vaterlose Gesellschaft«. Das Titelbild zeigte Vater, Mutter und Kind. Mit dem Filzstift war der Vater bis zur Unkenntlichkeit schraffiert. 

Aus der Sicht des 1958 geborenen und an der Universität Konstanz Literaturwissenschaft lehrenden Albrecht Ko­schorke kennzeichnet diese Ikonographie die Folgen einer aus dem elementaren abendländischen Code von der Heili­gen Familie hervorgegangenen und kulturell assimilierten Rollenanweisung. In 22 Kapiteln, deren letzte lauten »Chri­stus und Ödipus. Freuds Coup« sowie »Restfamilien im Wohlfahrtsstaat«, entwickelt Koschorke die Gründe, die vor 2000 Jahren mit dem kulturellen Phantasma von der Verkün­digung und der Heiligen Familie angelegt und über Jahrhunderte hinweg ausdifferenziert wurden zu dieser Endstation Wohl­fahrtsstaat. In dem Phantasma riß die irdische Genealogie ab und öffnete sich einer himmlischen Genealogie durch Jung­frauengeburt und Auferstehung.  

Psychoanalytiker kennen den Topos von der vaterlosen Ge­sellschaft von Paul Federn 1919. Seit Mitscherlich haben sie ihn vielfäl­tig mit psychoanalytischen Methoden untersucht. Koschorke fügt mittels literatur- und kulturwissenschaftlicher Methoden eine neue Sicht hinzu. Es gebe eine viel länger anhaltende Entwicklung dazu seit 2000 Jahren. Sie sei im christlichen Monotheismus und seiner folgenden christlichen Tradition be­gründet. Hier eine Argumentationsprobe: Die vaterlose Ge­sellschaft ist von »Anbeginn eine Geschichte der Spaltung der Vaterfunktion: in den empirischen und transzendenten Part, die anwesende unzuständige und die abwesende, aber aus der Ferne herrschende patriarchale Instanz. Dieses Schisma der Vaterschaft, geknüpft an die kulturträchtige Trennung zwischen geschlechtlicher und geistiger Liebe, hat sich zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Ge­schlechtskonfigurationen niedergeschlagen«. »Vor diesem Hintergrund kann es nicht gleichgültig sein, daß sich die europäische Modellfamilie schlechthin als eine unvollstän­dige, von einer komplizierten symbolischen Ökonomie ge­kennzeichnete, durch doppelte Vaterschaft [abwesender leib­licher Vater und Vater Staat] doppeldeutige Familie erweist.« Merkwürdigerweise habe sich dafür keine der großen Kul­turtheorien interessiert. Nicht einmal Freud, der doch in sei­ner Schrift über den >Mann Moses und die monotheistische Religion<. eine umfassende Analyse der Vater/Sohn-Achse auch im christlichen Glauben versuchte, sei auf diesen Sach­verhalt eingegangen. Koschorkes »Heilige Familie und ihre Folgen« ist nicht nur »Ein Versuch«. Das außerordentlich dicht recherchierte Werk ist eine Versuchung.

© Joachim F. Danckwardt 2010
 Anschrift des Verfassers:
JFDanckwardt@t-online.de
http://danckwardt.homepage.t-online.de 



Joachim F. Danckwardt, Tübingen, März 2010 

Erna Furman: 1926-2002 Ways of growing up
Texts & Interviews by Elena Makarova

With CDROM. Stichting Kunstenaarsverzet 1942-1945. ISBN 978 90 9022076 5,
Rotterdam: Veenman Publishers 2007, 221pp.  € 27.50 

Erna Furman-Popper, am 14. Juni 1926 in Wien geboren und am 9. August 2002 in Cleveland gestorben, war eine be­kannte Kinderanalytikerin. Sie studierte nach 1945 bei Anna Freud in Hampstead und an der Universität London. Ab 1952 arbeitete sie annähernd 50 Jahre am Hanna Perkins Center for Child Development in Cleveland, Ohio. Sie war Ehren­mitglied der American Psychoanalytical Association und Präsidentin der International Association of Child Psycho­analysis. Sie hat fast 200 Artikel und acht Bücher verfaßt, zuletzt 2001: On Being and Having a Mother. 

Der Stiftung Stichting Kunstenaarsverzet 1942-1945 ist es unter dem Vorsitz von Etty Mulder gelungen, die wenig be­kannte Jugend und Adoleszenz von Prof. Erna Furman zu dokumentieren, die sie im Ghetto Theresienstadt verbringen mußte. Seit 1941 waren dorthin 153108 Juden deportiert worden, von denen 34396 starben und 86934 nach Auschwitz und in andere KZ’s verbracht wurden. Erna Fur­man wurde im Oktober 1942 zusammen mit ihrer Mutter, Großmutter und mit drei Tanten dorthin deportiert. Sie hatten dem nach England geflüchteten Vater, Karl Popper, nicht mehr folgen können; nach 1946 fand sie ihn dort wieder. Mutter, Großmutter und eine Tante kamen in Theresienstadt um, zwei weitere Tanten wurden in Auschwitz ermordet. Als auch sie Anfang 1943 nach Auschwitz abtransportiert wer­den sollte, weigerte sie sich mit dem Hinweis, sie sei erst 16 und habe noch zu leben. Der erstaunte Jakob Edelstein (Historiker Sergei Makarov am 17.6.2011: tschechischer Zionist sowie erster Judenältester im Ghetto, * 1903 in Horodenka, Galizien; † 20. Juni 1944 im KZ Auschwitz) ließ ihr nach einer Weile mitteilen, daß sie durch den Tod der Mutter am gleichen Morgen einen »anderen Status« erhalten habe [als bei der in Auschwitz drohenden Selektion auf der Rampe: Mutter mit Kind] und ließ sie aus­steigen. »[…] by dying she saved my life« (61-62). Als sie ein Jahr später, Ende 1944, wieder abtransportiert werden sollte, sprach sie gleichermaßen mit dem SS-Obersturmfüh­rer Rahm in seinem Dialekt und kam aus dem Transport her­aus (15;80). Ähnlich verhielt sie sich bei der drohenden Ver­gewaltigung durch einen betrunkenen russischen Soldaten nach der Befreiung von Theresienstadt. Sie sprach ihn auf Russisch an, sagte, daß sie vielleicht beide ohne Familien seien. Er ging darauf ein, sprach von seinem fernen Zuhause und über seine Eltern. Am Ende wünschte er ihr alles Gute (15;92). »One must immediately establish human connec­tions« (15)! 

Aus Rücksicht auf ihre Ehe, Kinder, Mitarbeiter, ihre Tätig­keit als Psychoanalytikerin, auf das »sadistic exitement over Hitler« von »most Americans« (15) und aus Gründen des selbstanalytischen Durcharbeitens wollte Erna Furman in der Öffentlichkeit nicht über ihre schrecklichen Holocausterfah­rungen identifiziert werden und hatte deshalb bisher wenig darüber gesprochen. Erst als sie schon krankheitsgezeichnet war, entschloß sie sich zusammen mit ihrem Ehemann, dem Psychoanalytiker Robert Furman, über ihre Ghettoerfahrun­gen mit Elena Makarova, einer russischen Jüdin und Wissen­schaftlerin (Kunsttherapie; Bilder von Verfolgten in There­sienstadt), zu sprechen. Sie öffnete auch ihren Bilderschatz aus Theresienstadt. In der Ghettozeit hatte Erna Furman Kunstunterricht bei der Bauhauskünstlerin Friedl Dicker-Brandeis, Schülerin von Itten, Gropius und Klee, genommen. Sie hatte ihr assistiert, war als Betreuerin des Kinderhauses L 318 aktiv und malte selber. Friedl Dicker-Brandeis überlebte das Ghetto nicht. Die Bilder, die man nachträglich interpre­tieren kann als Elemente der Traumabewältigung, waren als »Ernas Raum« Bestandteil der Friedl-Dicker-Brandeis Ge­denkausstellung. Die Ausstellung ging 2001/2002 von Berlin nach Atlanta, und Furman kam aus Cleveland mit der Kunsttherapeutin Edith Kramer zusammen, die sie als Schü­lerin von Friedl Dicker-Brandeis in den dreißiger Jahren er­kannte.

Eine dem Buch beigelegte CDROM gibt die 2001 in Atlanta geführten Gespräche zwischen Erna Furman und Elena Ma­karova sowie die Bilder auf Video wieder. Das Buch enthält die ergreifenden und von Erna Furman selbst korrigierten Interviews sowie einige Bilder. Vor allem enthält es auch das komplette Tagebuch, dessen meist auf zwei Worte pro Tag chiffrierten Eintragungen sorgfältig entschlüsselt, recherchiert und kommentiert sind. So entstand ein überwältigendes Bild, nicht nur von der persönlichen Traumatisierung, Entwick­lung und Traumakultur Erna Furmans, sondern auch von dem der Vernichtung entgegenquellenden kulturellen Reichtum der jüdischen Eliten Tschechiens und Österreichs im Vorzeigeghetto Theresienstadt. Die Dokumentation über­trifft Vojtech Jasny’s Film über Theresienstadt, Hell on Earth, an psychologischem und historischem Detailreichtum (enthalten in Steven Spielbergs Broken Silence in der Shoa Visual History Foundation, 2004). 

Etty Mulder, Elena Makarova und Edith Kramer haben kluge Widmungen, Einführungen und Vorworte verfaßt zu einem erschütternden Dokument über einen derartigen way of growing up einer begabten jüdischen Frau – ab dem zwölften Lebensjahr im nationalsozialistisch angeschlossenen Wien und Prag und vom 16. bis 19. Lebensjahr im Ghetto There­sienstadt. Furman war »not overwhelmed by the holocaust but deeply affected by it. […] I survived! I survived much bodily and mental dangers, from the Nazi Holocaust to the treachery of would-be friends, from serious illness to the pain of bereavements. I struggled hard to survive but I never lost my capacity for good feelings – toward my loved ones, to­ward children and their parents (to whom my work as a psy­choanalyst has been dedicated), toward animals (wild and domestic), toward nature at large – from the littlest plant to the expanse of rock and seas. I do not consider myself special vis-à-vis fate. I am well aware that, beyond the suffering and hardship, I have gained a rich and deep understanding of human nature that has given me satisfaction and put me in good stead«. Man kann die Ausgabe beziehen durch Ver­mittlung der Stichting Kunstenaarsverzet 1942-1945, Dr. Hans Ester: j.ester@let.ru.nl.  

© PSYCHE © Joachim F. Danckwardt 2010

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Joachim F. Danckwardt, Psyche  Z - Psychoanal 64, 475-476

EDWARD BERNAYS: PROPAGANDA – DIE KUNST DER PUBLIC RELATIONS

Freiburg: orange press, zweite Auflage 2009, 158 S.

Über den Tellerrand hinaus fällt der Blick auf den 1928 bei Loverace Liveright in New York erschienenen Public-Rela­tions-Berater, der 2007 erstmals in deutscher Erstausgabe herauskam: Edward Bernays (1928): Propaganda – Die Kunst der Public Relations. 158 Seiten. Freiburg: orange press 2007. Warum sollte man ihn bemerken? »Die bewußte und zielgerichtete Manipulation der Verhaltensweisen und Einstellungen der Massen ist ein wesentlicher Bestandteil demokratischer Gesellschaften. Organisationen, die im Ver­borgenen arbeiten, lenken die gesellschaftlichen Abläufe. Sie sind die eigentlichen Regierungen in unserem Land. Wir werden von Personen regiert, deren Namen wir noch nie ge­hört haben.« (S.19) Bernays erläutert den Stellenwert der Propa­ganda in der modernen amerikanischen Gesellschaft und die Methoden, deren sie sich bedient – das Warum, das Was, das Wer und das Wie, nach dem die unsichtbaren Herrscher funktionieren, die unser Denken kontrollieren, unsere Ge­fühle steuern und unser Handeln bestimmen. In weiteren Ka­piteln erklärt er, wie Propaganda in bestimmten Teilsystemen der Gesellschaft funktioniert, und gibt Ausblicke auf weitere Anwendungsfelder. Bernays legte 1928 nichts anderes vor als eine im eleganten Wort und Ton des Managements ge­faßte Massenpsycholologie. Sie war von Walter Lippmann (Public Opinion, 1922), Gustave LeBon, Graham Wallas, John Dewey, Arthur Ponsonby (Falsehood in Wartime, 1928) und – von Sigmund Freud (S. 52) inspiriert. Bernays war damit für US-Präsidenten und für die US-Regierung, für die Tabakindustrie sowie für karitative und soziale Bewe­gungen erfolgreich und anerkannt tätig. Der Band wird von Ulrich Kienzle eingeleitet. Er weist klug auf Bakunin hin, der schon im 19. Jahrhundert auf den Terrorismus als Propa­ganda der Tat hinwies. »Die grausamen Verbrechen gesche­hen vor allem für die Medien. Die Tat ist die Propaganda. Die feindlichen Medien sorgten auch noch umsonst für die Verbreitung der Bilder. 9/11 und die Zerstörung der New Yorker Türme sind ein schlagender Beweis für die >Propa­ganda der Tat<.« (S. 12) Die Propaganda der Tat wurde vor allem von den Nationalsozialisten weiterentwickelt zur »Unbedingtheit der Tat«, was ausge­führt wurde in meiner Arbeit »Was könnten Dritte-Reich-Verfilmungen bewirken?« (Psychoanalyse im Widerspruch 39: S. 91-111, 2008). Seit dieser Zeit war der Begriff, Propaganda, endgültig negativ konnotiert. Erstmals war er 1622 als Be­zeichnung eines Amtes zur Propagierung des richtigen Glau­bens, »Congregatio de propaganda fide«, für die Schäfchen, die verloren durch die Welt irren (Protestantismus), aufge­taucht. Das Amt wurde 1967 in »Kongregation für die Evan­gelisierung der Völker« umbenannt. Mark Crispin Miller, Professor für Medienökologie an der New York University (NYU’s Steinhardt School of Culture) hat diese Seite der Psychologie der Massen in einem glänzend recherchierten Nachwort ausgearbeitet. Es dient auch zur ausgewogenen Einschätzung von Bernays Person und seines einflußreichen Wirkens (S. 137-154). Soweit, und wer war nun eigentlich Edward Bernays? Er lebte von 1891-1995 und ist Sigmund Freuds Neffe, Sohn von Martha Freuds Bruder, Elis Bernays, mit dem sich Freud wegen der Mitgift überworfen hatte. Sie waren 1892 nach New York ausgewandert. Anfang Mai 1898, fünf Tage nach Freuds 42. Geburtstag, träumte Freud den »Traum vom Schloß am Meer«, der an Tagesresten die beunruhigenden Nachrichten aus Amerika über die See­schlacht von Manila zwischen Spanien und Amerika aufgriff. Auf New York wurde ein Angriff von See befürchtet. Es heißt, der Neffe habe mit 37 Jahren das Werk seines Onkels in Amerika populär gemacht und sich der Theorie und Praxis der Psychoanalyse zur Entwicklung von Methoden zur Be­einflussung der öffentlichen Meinung und Massen bedient.  

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Joachim F. Danckwardt, Tübingen, Dezember 2009

Ulrich Moser: Traum, Wahn und Mikrowelten. Affektregulierung in Neurose und Psychose und die Generierung von Bildern. 220 Seiten. Frankfurt: Brandes & Apsel 2008.

Ulrich Moser ist emeritierter Professor für Psychologie und klinische Psychologie an der Universität Zürich und Psychoanalytiker der Schweizer Gesellschaft für Psychoanalyse/IPA. Er gibt in diesem Werk eine Zusammenfassung seiner Forschungen mit den exakten Methoden der Kodierung der Phantasien. Mit »Computersimulation of a model of neurotic defence processes« (International Journal of Psychoanalysis 50: 53-64) hatte er zusammen mit Ilka von Zeppelin 1991 und 1996 den traditionellen interpretativen Zugang zum Schlaftraum suspendiert und einen neuen beschreibend-kodierenden Ansatz versucht. Sie entwarfen Modelle der Generierung und Transformation von Träumen (»Cognitive-Affective Processes. New Ways of Psychoanalytic Modelling.«, Springer, 1991; »Der geträumte Traum“, Kohlhammer, 1996). Nun hat Moser zusammen mit Th. Stompe diese Ansätze, die implizit eine neue Traumtheorie abgaben, im vorliegenden Buch (III. Kapitel) auf das Phänomens des Wahns und auf die Bildnerei von Wahnkranken erweitert. Damit entwerfen sie implizit eine neue Wahntheorie und im Grunde auch eine neue Bildtheorie für die Bildende Kunst. Letzterer Eindruck wird gestützt durch eine Diskussion psychoanalytischer Bildtheorien der zurückliegenden Jahre. 

Was ist das Neue? Nicht nur der Traum sondern auch Wahn und Bild werden als virtuelle Mikrowelten aufgefaßt. Sie spielen sich hauptsächlich in (Sprach-)Bildern und (sprachlichen) Szenarien ab. Diese werden von den Affekten gestaltet. Streckenweise werden sie von Gedanken und Überlegungen überlagert. Und in diesen Bildern spiegeln sich die Selbstveränderungsprozesse des Menschen wieder, die die Selbstwirksamkeit ausmachen. In Mikrowelten bewegt sich das Subjekt in Zeiten, Orten und Beziehungen. Da Moser die Bilderwelten des Traumes, des Wahns und der Bilder als eine Form der Simulation und Transformation des sich erlebenden Selbst auffasst, bilden sie folglich auch Modelle für Veränderungsprozesse ab. So werden sie und ihre Untersuchung für die moderne Psychotherapieforschung außerordentlich interessant.  

Dem Leser wird die Technik und Interpretation der Kodierung vermittelt. Sie wurde von Moser und Zeppelin entwickelt und von Döll (2008) validiert sowie an Traumsequenzen von Situation zu Situation von Psychoanalysen exemplifiziert. Das Verfahren entwickelten sie nun analog für den Wahn weiter. Die Kategorien der Kodierung sind die Bestimmung der Positionsfelder, die zeitliche Lokalisation, die räumliche Lokalisation, der Raumwechsel (mit Verlassen und Eintreten), die Situationssequenz der Mikrowelt, die Innenstruktur der Situation, die kognitiven Prozesse und Modelle des Selbst als Formen der Subjektprozessoren. In Analogie zur Traumanalyse werde beispielsweise beobachtet, welche Art der Relation in der Situation auftaucht und was das Thema der Interaktion sei. Dabei werden zum Beispiel Kategorien erfaßt wie responsive Relation, resonante Relation, kommunikative Relation, Interaktion am oder im Subjekt ohne Außeneinwirkung, mentaler Prozeß, körperlicher Prozeß, Displacement der Interaktion, sekundäres Interaktionsfeld im Displacement, verbale Relation und Hilfsrelationen des Subjektprozessors. Die Methoden, Vorzüge und Probleme der Kodierung werden an der Aufarbeitung einer Traumerzählung des Psychoanalytikers R. Zwiebel, an einer kinderanalytischen Therapiestunde der Psychoanalytikerin E. O’Shaughnessy und an den Wahnerzählungen eines Schizophrenen von Th. Stompe zusammen mit Holzer gezeigt. Ein letztes Kapitel beschäftigt sich mit den visuellen bildnerischen Gestaltungen als Mikrowelten von Wahnkranken. Sie seien Narrative besonderer Art, eine Konkretisierung visueller Bilder, nicht in Worte gefaßt, sondern visuell, haptisch und kinästhetisch geschaffen. Daher werden sie von Moser auch als ganz frühe Formen der Reflexivität aufgefaßt. Sie gleichen einem »re-entry« aus der »Zwischenwelt« der Externalisierung / Projektion in die Wiederaufnahme der Thematik, nun mit geringeren Ängsten und Affekten. Bilder von H. Scherer, A. Wölfli, M. C. Escher und die Selbstdarstellung eines jungen Psychotikers runden die Beispiele ab, mit denen sich Wahnträger vor affektiv unerträgliche Katastrophen schützen. Mit der Einführung des »re-entry«-Konzepts kommt der Autor zu allgemeinen Gedanken über Psychotherapie (!) als »re-entry«-Prozeß. Genau betrachtet handelt es sich hierbei um eine neue psychoanalytisch gestützte Therapiekonzeption. Leider wird sie nicht detaillierter durchgeführt; eine weitere Zusammenschau steht an.  

Mit den Mitteln der Kodierung werden im Prozess des Wahns neue wesentliche Unterschiede zum Traum deutlich: Desaffektualisierung, affektiver Regulierung und wahnhafter Transformation. »Die stete Desaffektualisierung, die Trennung von panikartigen Affekten von Kognitionen, die Vermeidung von intentionalen Gefühlen, die eine Objektbeziehung auslösen würden, wurden als wesentliche Komponenten der Wahnbildung beschrieben«. Wahn enthalte zusätzliche Transformationen, die sich im Traum nicht finden lassen. Es finde eine Transformation in eine virtuelle Realität statt. Dort herrsche ein derart spezifisches Bewusstsein, das weder dem Schlafbewusstsein noch dem Wachbewusstsein gleiche. In ihr könne der Wahnträger „für längere Zeit wohnen bleiben“. Das gelte für den Traum nicht. Damit gehe aber auch ein Verlust an Transformationspotential zur Regulierung von Interaktionen einher. Das gleiche einem Verlust an Möglichkeiten der Selbstveränderung, die ein Mensch besitze. Es nötige ihn zu einer erhöhten Frequenz der Selbstregulierung mit Hilfe schnellen Wechseln des Subjekts in Beziehungen, Zeiten und Orten. Dies erzeuge jedoch ein wahnhaftes Selbstmodell, mit dem dem Wahnkranken nicht eine »Bündelung« der autobiographischen Mikrowelten zu einer Makrowelt gelinge: »Jeder Wahn ist [zugleich] auch die Makrowelt«. 

Moser faßt Kodierung als ein unabdingbares methodisches Instrument auf, sofern man sich in eine empirische Überprüfung einer Theorie einlassen wolle. Zunächst diene sie der Überprüfung der Stringenz der Theorie: sind alle Phänomene erfaßt und in einen modellhaften Zusammenhang gebracht worden? Dann lassen sich durch Kodierungssyteme Vergleiche von Mikrowelten einer einzelnen Person oder von Personengruppen sowie Wahnerzählungen und Schlaftraumberichte eines einzelnen Subjekts bzw. von Krankheitsentitäten besser untersuchen. Der Autor beschließt sein zum Geschehen und Dynamik von Traum, Wahn, Bild und Bildenden Künsten wegweisendes Werk konsequent mit dem Hinweis: »Unsere [wissenschaftlichen] Theorien sind übrigens auch Mikrowelten, die ebenfalls Beschränkungen der Kompetenz des Denkens und unserer affektiven Möglichkeiten unterliegen«. 

© Joachim F. Danckwardt 2009

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Joachim F. Danckwardt, Februar 2009

Jonathan Crary:

[1990]: Techniken des Betrachtens. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert. Amsterdam 1996

[1999]: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur. Frankfurt a. M. 2002.

Über den Tellerrand hinaus fällt der Blick auf zwei Werke des amerikanischen Kunstgeschichtsprofessors Jonathan Crary: [1990]: Techniken des Betrachtens. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert. Amsterdam 1996 und [1999]: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur. Frankfurt a. M. 2002. Man kann sie noch im ZVAB erhalten. Warum sollte man? Beide Werke, vor allem das letztere, beschreiben die radikale Veränderung der Wahrnehmung und deren Wurzeln im 19. Jahrhundert. Ohne diese »Modernisierung des Blicks« wäre die Entwicklung der Psychoanalyse undenkbar gewesen. Für S. Freud war eine erste Bedingung, zu psychoanalytischen Theorien zu kommen, die, den seinerzeit herrschenden methodologischen Objektivismus des Newtonschen Weltbilds lockern und flexibel verlassen zu können. Es war das Weltbild der Fokussierung, der monofokalen visuellen Orientierung allein auf das Untersuchungsobjekt. Die Camera obscura war sein herrschendes Paradigma. Das Mikroskop war lange Zeit Freuds wichtigstes Arbeitsinstrument. Mit ihm gelangen ihm zahlreiche Entdeckungen. Er hatte das Gebiet sogar um die Goldchloridmethode bereichert. Auf psychologischem Gebiet war die Metapher vom inneren Scheinwerfer für diese Auffassung repräsentativ. Der Zustand der Aufmerksamkeit des Untersuchers in motorischer Hemmung charakterisierte die Untersuchungssituation, in der dann ausgewählte mentale Inhalte Klarheit gewinnen und zentriert wurden. Das lehrten noch Theodule Ribot oder Wilhelm Wundt. Um zu psychoanalytischen Theorien zu kommen, mußte sich Freud bekennen zu einem neuen Sehen, zu einem »…regelrechten Durcheinander von Sehen, Tastsinn, Gehör und dem kinästhetischen Sinn, sowie mit ein paar Trieben, verschiedenen unterscheidbaren Instinkten und der ganzen Gruppe der höheren Vermögen von Vernunft, Gedächtnis, Urteilskraft, Aufmerksamkeit, usw. – mit einem solchen Durcheinander also, daß es praktisch ganz unmöglich ist zu sagen, wo das Sehen aufhört, oder bei manchen Reflexen, was das Sehen überhaupt mit ihnen zu tun hat«. Der Satz hätte von Freud stammen können. Geschrieben hat ihn 1886 der britische Neurologe W.J.Dood. Freud, der die grundsätzliche wissenschaftliche Wendung zur Afokalität vollzog, entwickelte 9 Jahre später im »Entwurf einer Psychologie« ähnliche Gedanken zu seinem neuen Modell. In ihm fließt das Beobachtungsmaterial nicht mehr monofokal ins Bewußtsein ein, sondern aus mehreren unterschiedlichen Richtungen, und das mentale Geschehen wird netzwerkartig über mehrere verschiedene Leitungsbahnen und Vorgänge prozessiert. Mit diesem Modell wird ungerichtet, azentrisch und multitemporal wahrgenommen. Wahrnehmung wird nun durch »Aufmerksamkeitsbesetzungen« mitgestaltet, und »der Erfolg der Aufmerksamkeit wird sein, daß anstelle der Wahrnehmung mehrere oder eine (durch Assoziation mit dem Ausgangsneuron verbundene) Erinnerungsbesetzungen auftreten« (Freud 1950c [1895], S. 454). Diese Wende muß heutzutage jeder Psychoanalytiker erneut leisten. Crary beschreibt die Entwicklungswege von Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, ihre Befreiung und die Neuerfindung des Sehens am Beispiel von drei Malern der Moderne - Manet, Seurat und Cézanne. Gelungen ist eine Kulturgeschichte der Wahrnehmung. 
 

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Joachim F. Danckwardt, Dezember 2007

Ludger M. Hermanns (Hg.): Psychoanalyse in Selbstdarstellungen,

Bd. 5: Beiträge von Wolfgang Bister, Judith Dupont, Klaus Fink, Eugen Mahler. –

Bd. 6: Beiträge von Hermann Beland, Anna Ornstein, Paul Ornstein, Léon Wurmser. Frankfurt a. M. (Brandes & Apsel) 2007, je 208 Seiten. Je 19,90 Euro. 

Die Reihe Psychoanalyse in Selbstdarstellungen hat für ihren 5. und 6. Band einen neuen Verlag gefunden. Sehr bald erahnt der Leser die immense herausgeberische Umsicht und Sorgfalt, mit der L. M. Hermanns acht international renommierte Psychoanalytiker gewonnen und im Hintergrund betreut haben muss. Denn diese stellen nicht einfach Kindheit, Jugend und Adoleszenz vor. Sie beschreiben ungeschützt die Bedeutung schicksalhafter familiärer Lebenstatsachen, den Einfluss von Weimarer Republik und Nationalsozialismus mit ihren weltanschaulichen, sozialen und politischen Terrainkämpfen, Verfolgung, Arbeits- und Konzentrationslager, Emigration und Krieg. Sie enthüllen ihr persönliches Ringen um Theologie, Psychologie, Medizin, Kunst und schließlich um die Psychoanalyse nach dem Zweiten Weltkrieg, nach dem Kulturbruch und dem Ruin deutschsprachiger psychoanalytischer Institute. Fazit der Bände: acht Lebensreisen, acht Zeitgemälde aus der dramatischen Kultur- und Sittengeschichte des 20. Jahrhunderts in acht Ländern, acht Einträge in das kulturelle Gedächtnis – historische Wahrheit, aus acht individuellen Wahrheiten geknüpft.

Welche Kernstücke werden gleicherweise überall beherzigt? Mit dem Titel knüpft die Reihe an Freuds „Selbstdarstellung“ von 1925 an. Im Unterschied dazu geben die Autoren aber keine systematische Darstellung der Entwicklung, der Grundbegriffe und der Technik, des inneren Wachstums und der äußeren Schicksale der Psychoanalyse nach dem Zweiten Weltkrieg, auch keine Darstellung im Sinne eines offiziellen Theoriekorpus. Sie zeigen vielmehr die ausgedehnten subjektgebundenen Teilstücke der Psychoanalyse in der Praxis, die schriftlich bisher nicht hinlänglich tradiert wurden, in der modernen Psychoanalyse jedoch brandaktuell sind. Es sind die von J. Sandler so genannten „impliziten privaten Theorien“. Sie entstehen bei der Anwendung offizieller Theorien und Techniken unter dem Eindruck des konkreten individuellen Analysanden auf den konkreten individuellen Analytiker. Beide haben implizite private Theorien. Bekommen sie damit eine Passung zustande, die Freud „persönliche Gleichung“ nannte, dann erhöhen sich die Chancen eines wirkungsvollen psychoanalytischen Prozesses auf dem offiziellen common ground von Trieb-, Wunsch-, Konfliktpsychologie wie auch  Struktur-, Ich- , Objektbeziehungs- und Selbstpsychologie.

In diesem Sinn bemerkt etwa J. Dupont: Analytiker müssen sich nach ihrer Ausbildung darüber klar werden, dass eine analytische Situation ganz verschieden angegangen werden kann, dass es die gute Technik nicht gibt, sondern jeder selbst herausfinden muss, welche er auszuüben in der Lage ist und welche Konsequenzen damit verbunden sind. Implizite private Theorien können zu offiziellen Theorien generalisiert werden. Das verdeutlichen A. und P. Ornstein am Beispiel der Selbstpsychologie, die sich aus Kohuts frühen theoretischen Annahmen, dass der Narzissmus neben der Objektliebe eine separate Entwicklungslinie darstelle, heraus entwickelte. Diese Sicht habe ihnen eine praktische Art und Weise aufgezeigt, wie kindliche Grandiosität im Verlauf der Analyse in Kreativität umgewandelt werden könne. Sie habe ihnen geholfen, die Beziehung zwischen der inneren Welt des Kindes und seiner emotionalen Umgebung besser einzuschätzen, Konzepte der kurativen Phantasie, des empathischen Zuhörens und Antwortens, des therapeutischen Dialogs und einer entwicklungspsychologisch orientierten Behandlungstheorie zu generieren. Durch H. Beland werden wir über die Verschränkung von innerer subjektiver, häufig traumatisierter Disposition mit äußerer sozialer Realität aufgeklärt und über die fortgesetzte schrittweise Rückgewinnung der eigenen Ehrlichkeit in Bezug auf noch nicht wirklich verstandene unbewusste Motive. Ihm zufolge sind Analytiker ein Leben lang damit beschäftigt, sich ihre mit jedem neuen Analysanden variierenden privaten Theorien bewusst zu machen. Dabei helfen ihnen streckenweise die generalisierten Theorien anderer Schulen. So hat K. Fink nach einer psychoanalytischen Welt- und Lebensreise wieder Anschluss an M. Blancos Bilogic gefunden, die das unbewusste vom bewussten Denken klar unterscheidet und definiert, was für ihn schwerwiegende therapeutischen Konsequenzen gehabt und ihm auch das Verständnis psychopathologischer Folgen bei Überlebenden der Naziverfolgung erleichtert habe.

Die Explikation privater Theoriebildung ist nicht zuletzt auf dem Gebiet der angewandten Psychoanalyse relevant, wie W. Bister und L. Wurmser bezeugen. Bister sah seine Aufgabe darin, auf die Verflechtung der intrapsychischen Dynamik von ausgewählten schizophrenen Patienten mit ihrer Umwelt zu achten, um individuelle Behandlung, präzise: die Konflikte des einzelnen Schizophrenen, vor allem zwischen Ich und Umwelt, zugleich mit den Versorgungsbedürfnissen von mehreren Patienten zu vereinbaren. Für Wurmser wurde die Sequenz: traumatische Hilflosigkeit, Phantasie von der Allmacht der Verantwortung und, wegen deren Versagen, Massivität der Schuldgefühle zu einem wichtigen Ansatz in seiner Theorie der Überich- und Scham-Analyse. Bei E. Mahler schließlich scheint seine implizite private Theorie an seiner Traumdeutungspraxis auf. In ihrem Zentrum steht eine Conditio humana, der Konflikt zwischen der ästhetischen Erfahrung, des Hineingezogenwerdens in die ästhetische Wirkung des Äußeren, das den Sinnen des Analytikers zugänglich ist, und der Rätselhaftigkeit seines Inneren (Bedeutung), das er mit seiner kreativen Vorstellungskraft konstruieren muss.

Alles in allem geben diese Beiträge zur „Psychoanalyse in Selbstdarstellungen“ unentbehrliche Auskunft über die Wirklichkeit der Psychoanalytiker.

In: Luzifer-Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse. 41: 175-177. 2008

© Joachim F. Danckwardt 2007
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Joachim F. Danckwardt, Frühjahr 2008

Ludger M. Herrmanns (Hg.): Psychoanalyse in Selbstdarstellungen, Bd. 7: Beiträge von André Haynal, Lore Reich Rubin, Lutz Rosenkötter, Kaspar Weber. Frankfurt a. M. (Brandes & Apsel) 2008, 186 Seiten. 19,90 Euro. 

Von der Reihe Psychoanalyse in Selbstdarstellungen liegt nun der 7. Band vor. Sie hat sich seit dem ersten Band, der 1992 erschien,[1] mit ihren mittlerweile 44 zeit- und kulturgeschichtlichen Dokumenten zu einem ganz besonderen Medium entwickelt. Was hier entstanden ist, kommt nicht in den kurzen Zeitabständen eines wissenschaftlichen Periodikums heraus. Dessen Inhalte spiegeln oft die ständigen wissenschaftlichen Veränderungen wider, die aktuelle forscherische Vielfalt und gelegentlich auch die Kurzlebigkeit und Einmaligkeit von Hypothesen, Forschungsansätzen und Ergebnissen. In der hier betrachteten Reihe hingegen werden die Psychoanalyse und ihre Entwicklungen über lange Zeiträume und in längsschnittlicher Gesamtheit betrachtet. Die Beiträge gewinnen einen ganz anderen Wissenschaftscharakter. Sie sind ein unerschöpflich sprudelnder Quell für psychoanalytisch-wissenschaftliche Theorieansätze, der sich aus Berufs- und Lebenserfahrung speist.

Erneut finden sich in dem vorliegenden Band Selbstportraits von vier namhaften Psychoanalytikern. Es sind Arbeitslebensläufe von Personen, denen die Psychoanalyse in und nach den Kulturbrüchen des 20. Jahrhunderts wichtig, ja überlebenswichtig wurde. Der Leser wird einer anderen als der therapeutischen Wirksamkeit der Psychoanalyse gewärtig. Die Psychoanalyse half den Autoren, eigene Bedeutung, Tendenz, Absicht und Stellung in inneren und äußeren geschichtlichen Zusammenhängen zu entwickeln. Unter arbeits- und werkbiographischem Blickwinkel verfertigt, erschließen die Selbstbilder nicht nur die einzelne Person, ihre intime Welt und ihre Gedanken. Die zwischen 1926 und 1931 in ideologische, soziale, politische und kulturelle Terrain- und Vernichtungskämpfe Hineingeborenen leisteten nach 1945 ihrerseits auf die eine oder andere Weise Beiträge für die Psychoanalyse und wuchsen in eine kulturell herausragende Zeitgenossenschaft hinein.

Zum Beispiel André Haynal mit der Freud-Ferenci-Technik-Debatte, mit seinen Fanatismus-Forschungen und seinen Arbeiten über Depression und Kreativität. Zum Beispiel Lore Reich-Rubin mit ihrer klugen Reflexion der Wilhelm-Reich-Anna-Freud-Debatte aus erster Hand, mit ihrer daraus erwachsenden Diskussion der über Freud hinausgehenden Traumatheorien der frühen Ichentwicklung und Ichveränderungen, die sie als Kind von zwei Psychoanalytikern besonders differenziert weiterführen kann, schließlich mit ihren komparatistischen Ausführungen über Institutsentwicklungen und Institutskulturen in Amerika. Zum Beispiel Lutz Rosenkötter mit seinen persönlichen Beiträgen zur Ichentwicklung und Ichveränderung durch die Traumakultur der NS-Zeit, mit seinen gründlichen Wissenschaftsdebatten in der Psychoanalyse und seinen Arbeiten an der Entwicklung der Psyche seit den 60er Jahren. Zum Beispiel Kaspar Weber mit seinem ab 1970 geduldig betriebenen Wiederaufbau einer psychoanalytischen Arbeitsgruppe in Bern, nachdem sich die erste 1928 infolge der Spaltung der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoanalyse aufgelöst hatte. Sie war fünf Jahre vorher von Ernst Blum gegründet worden, auf den sein Lehranalytiker Freud große Hoffnung gesetzt hatte.

Durch die Prismen von vier Lebensschilderungen erfahren wir unerschöpflich viel, nicht nur über die Geschichte der Psychoanalyse, sondern auch über deutsche, ungarische, tschechische, österreichische und schweizerische Kulturgeschichte. Besonders spannend sind die impliziten Aufzeichnungen über die Vernetzung mit der Wissenschaftsgeschichte der Psychiatrie in der Schweiz, ihre Annäherung an Freud und Distanzierung von ihm durch Bleuler und Jung, die Fortentwicklung der Ichpsychologie in Amerika sowie die Herausbildung von nachanalytisch-phänomenologischen und antitheoretisch orientierten Schulen und die Auseinandersetzung mit lokalen psychoanalytischen Bewegungen.


[1] Die erste Hälfte dieses 1. Bandes, mit Beiträgen von Jacques Berna, Lambert Bolterauer, Hans Keilson und Judith S. Kestenberg, ist 2009 bei Brandes & Apsel in einer aktualisierten Neuauflage erschienen, gleich aufgemacht wie die späteren Bände 5–7. Eine Fortsetzung dieser Neuabdrucke ist geplant.

© Joachim F. Danckwardt 2007
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Joachim F. Danckwardt, 2004

Hartmuth König: Gleichschwebende Aufmerksamkeit und Modellbildung. Eine qualitativ-systematische Einzelfallstudie zum Erkenntnisprozess des Psychoanalytikers. 529 Seiten. Ulmer Textbank: Ulm, 2000

 

Dieses Buch hat 529 Seiten und wiegt 875 Gramm: ein opus magnum. Sein inhaltliches Gewicht setzt ein sorgfältig gewähltes Umschlagmotiv künstlerisch in Szene. Es ist die Abbildung eines Aquarells von Hans Peter Reuter von 1989. Es trägt den Titel „LICHT-RAUM 500“. Der Betrachter nimmt eine zwischen Hell und Dunkel, Weiß und Blau in den Raum gestaffelte säulenartige „ungewisse Schwebe“ (S.284/295) wahr. Sie mag an das dynamische Logo des Nachrichtensenders N-TV erinnern. König veranschaulicht damit den „aktiv imaginierenden Feldwechsel“ (S.295), seine vertiefte Auffassung eines  Charakteristikums des psychoanalytischen Erkenntnisprozesses: die gleichschwebende Aufmerksamkeit. Sie wurde von ihrem Begründer, S. Freud, 1900 und 1912 als zentraler Bestandteil der psychoanalytischen Haltung herausgearbeitet. Sie stand und steht entgegensetzt zur hochbewussten und fokalisierten Arbeitsweise der westlichen Denk- und Wissenschaftstradition. Mit Hilfe der gleichschwebenden Aufmerksamkeit, die vor allem die Emotionalität als Teil unseres aktiven wie passiven Lebens in den Erkenntnisprozess integriert, bemüht sich der Psychoanalytiker  um das Erhaschen des Unbewussten und seiner „alternativen, nicht prozessierten Sinnpotentiale“ (S.219), also um Deutungsoptionen und Gegensatzbildungen zu häufig rasch verfestigten „selektiven Sinnkonstruktionen“ anderer Therapieformen.  Solche emotionalen Erfahrungen sind in Texten situativ und szenisch stets repräsentiert (S. 300, 306). Jedoch werden sie als Vorformen von Gedanken (Bion) häufig nur erspürt und nicht wirklich aktualisiert. Oder sie werden vermieden (S. 313). Das heißt: Erahntes wird wieder verleugnet. Zu seiner Hebung und Auffaltung bedarf es nicht nur der psychoanalytischen Haltung sondern auch  – das ist Königs These - der Explikation der stets am Erkenntnisprozess mitwirkenden „selektiven Filterwirkung von Modellen“ (S. 284).

Königs Arbeit ist eine aufwendig angelegte, hochdifferenziert bedachte und sorgfältig durch immer neue Explikationsschleifen geführte und dennoch lustvoll lesbare Dissertation. Der Autor ist Psychologe, Psychoanalytiker, Lehr- und Kontrollanalytiker der DPV. Seit langem wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung für Psychoanalyse, Psychosomatik und Psychotherapie an der Universität Tübingen und gleichzeitig an der kassenärztlichen Versorgung beteiligt weiß er, was er untersucht: Die Studie problematisiert den Entstehungszusammenhang von Deutungen im Therapeuten. Über dieses Spezifikum des psychoanalytischen Praktikers gebe es kaum systematisch empirisches Wissen. Die Auswahl und Diskussion der Primär- und Sekundärliteratur sowie die Danksagungen deuten an, dass König sich schon über 25 Jahre mit der Materie und mit ihr beschäftigten Wissenschaftlern ideenreich auseinandergesetzt hat. Das Projekt, das u.a. mit finanzaufwendigen Transkriptionen arbeitet, wurde mit der Unterstützung der Breuninger Stiftung, Stuttgart, durchgeführt. Verstreute frühere Veröffentlichungen in dieser Zeitschrift ließen bereits eine Gesamtschau vermuten. Nun expliziert er zunächst die Problemstellung: den psychoanalytischen Erkenntnisprozess, seine Theorie und die Folgerungen, die sich aus der neueren Forschung ergeben. Er betrachtet den Erkenntnisprozess vor allem in seiner Verlaufsstruktur und in seinem durch Modelldenken balancierten Wechselspiel von Erfahrung und Theorie. König bilanziert den Bestand des Modellbegriffs und bezieht dann eine interdisziplinäre Position zu den Modell-Szenen nach Lachmann und Lichtenberg, zu Bions Modellbildung und zu Peterfreunds Position zwischen heuristischen Strategien und Modellen. König entwickelt Aspekte einer integrativen kognitiven Rahmentheorie, die die zeitliche, hierarchische und interaktionelle Erstreckung von Modellen – Situationskonzepte und überdauernde Modellstrukturen, Arbeitsmodelle des Patienten und psychoanalytische Metamodelle des Analytikers (z.B. Übertragung/Gegenübertragung) – erfasst. Modelle werden als „Inferenzraum“ (S.147) konzipiert. In ihm nimmt Modelldenken den Stellenwert einer intervenierenden Phase zwischen gleichschwebender Aufmerksamkeit, sinnlicher (S.221) und emotionaler Erfahrung (S.86) sowie Theorie ein. Ein ausführliches Kapitel ist der Diskussion der Phasen der für diese Fragestellung relevanten psychoanalytischen Therapieforschung gewidmet. Ihr folgt die Diskussion des ausgeklügelten Ablaufs der Untersuchung; sie folgt der Grundfrage: was ist durch welches Vorgehen zugänglich. Zuerst die Ausgangsdaten: eine Therapiestunde und der Stundenrückblick durch den behandelnden Analytiker sowie das Explikationsgespräch. Dann die Auswertung: ausführliche Kommentierungen des Verbatimprotokolls, der Tonaufnahme, des Stundenrückblicks und des Explikationsgesprächs im Licht des initialen Beziehungsthemas, im Spiegel der Begrüßung zu Beginn der Sitzung, ihres Beziehungshintergrundes, der Therapieunterbrechung, der Verfügungswünsche des Patienten und der tatsächlich eingeschlagenen Deutungskurse des behandelnden Psychoanalytikers.

Die Untersuchung zeigt, Deutungshandlungen sind von bewussten und vorbewussten Modellstrukturen bestimmt und modellfremde Bedeutungen werden ausgegrenzt. Entsprechende Wahrnehmungen werden von der weiteren Verarbeitung ausgeschlossen (S.430). Der Therapeut aktualisiert also kaum ein situationsnahes Prozesswissen und Handlungserinnerungen (S.430). Die gleichschwebende Aufmerksamkeit findet durch Arbeitsmodelle und behandlungstechnische Metamodelle engere Grenzen, als es die offizielle Theorie postuliert (S. 412). Gleichschwebende Aufmerksamkeit ist daher wie alle psychoanalytischen Konzepte Gegenstand der privaten und impliziten Theoriebildung (i.S. Sandlers 1983). Die Annahme, dass die gleichschwebend aufmerksam wahrgenommene und analysierte Gegenübertragung die Modellbildung bestimmt, erscheint einseitig und unvollständig (S.410). Hingegen wirken Modellstrukturen als Wahrnehmungs- und Verarbeitungsfilter (S.408).  Bions idealtypisches Modell der Aktualgenese von Einsicht, die im Hier-und-Jetzt aus verstreuten Elementen als auftauchendes Muster neu entstanden aufgefasst wurde, ist damit relativiert (S.409). Darf der Rezensent hinzufügen: relativiert um den Faktor des nicht explizierten Inferenzraumes? Und prozessiert eine methodisch durchgeführte Explikation der stets am Erkenntnisprozess mitwirkenden selektiven Filterwirkung von Modellen die gleichschwebende Aufmerksamkeit von einer normativen Kompetenz zu einer privilegierten Kompetenz i.S. Spence’s?

Die aufmerksame und genussvolle Rezeption des Untersuchungsansatzes und seine Durchführung bringt eine weitere Lesefrucht, nämlich Königs Versuch methodischer Innovation, mit der er „bei der Exploration des inneren Operierens des Psychoanalytikers über eine zusammenfassende Befragung hinausgeht“ (S.8). Mit Innovation darf König vor allem sein Vorgehen bezeichnen, das er als eine „dialog-hermeneutische Methode in der qualitativen Sozialforschung“ einordnen kann (S.11), sich psychoanalytischerseits der Auffassung Sandlers (1983) und dem Naturalisierungskonzept Spence’s (1981) verpflichtet fühlt (S.106) und am Ende kritisch gewichtet (S.430). Der Leser erfährt eine weitere Innovation. Durch die Schleife für Schleife nachvollziehbare Anwendung des Modelldenkens scheint die Bedeutung der Funktionen von Modellbildungen auf:  ihre erkenntnistheoretischen, repräsentierenden, selegierenden, heuristischen und veranschaulichenden Funktionen. Mittels exemplarischer Durchführung dieses Denkens gelingt es König, im Bereich des Vor- und Unbewussten die Dimension einer umschriebenen Form von Urteilskraft zu etablieren, die die Psychoanalyse von Dogmenbildung befreien kann. König zeigt, dass die Psychoanalyse mit dem Konzept von der Modellbildung als Inferenzraum eine Urteilskraft zugewinnt, unter der Annahmen über das Unbewusste zugänglich werden für Rechtfertigungen oder Widerlegungen, ähnlich wie Annahmen und Urteile anderer Provenienz. Mit einer derartigen Denkanleitung und Denkpraxis wird der Leser spürbar von hagiographischem Ballast und von Glauben bildenden Schulrichtungen entlastet. Unter einer derartig entlastenden Wirkung kann es natürlich nicht ausbleiben, dass der Leser aus der klinischen Fallbeschreibung und der Stundeneröffnung ein eigenständiges Ad-hoc-Modell, ein daraus abgeleitetes Arbeitsmodell und schließlich ein alternatives Metamodell der dafür nötigen Behandlungstechnik (S.276) entwickelt. Natürlich hatte König auch an diese Variante gedacht, jedoch als unwahrscheinlich verworfen. Überraschenderweise fühlt sich der Leser durch das am Schluß entfaltete biographische Material des Patienten in dem eigenen Ad-hoc-Modell gestützt (S. 339, 345). Nun könnte er beginnen, über die selegierende Funktion des Wissenschaftlers nachzudenken. Also leitet die Studie über ihren reichhaltigen akademischen und enzyklopädisch Wert hinaus zu praktisch psychoanalytischem und wissenschaftlichen Denken an. Dass sie daher auf die Literaturliste von Ausbildungsinstituten gehört, ist für den Rezensenten keine Frage. Die Antworten auf Freuds Frage, ob die Psychoanalyse an der Universität gelehrt werden sollte, sind um eine eindrucksvolle Dimension reicher geworden. 


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Joachim F. Danckwardt, 2002 

Reiche, Reimut: Mutterseelenallein. Kunst, Form und Psychoanalyse. 200 Seiten, 16 Farbtafeln. Stroemfeld/Nexus: Frankfurt am Main und Basel, 2001. 

Beuys sprach, das Kunstwerk sei ein Rätsel und der Mensch seine Lösung. Reiche schreibt, des Rätsels Lösung seien die Psychoanalytiker. Allerdings trübt er Hoffnungen auf eine allzu umfangreiche Personaldecke frühzeitig ein, nämlich bereits auf dem Buchdeckel. Psychopathographie und Gegenübertragungshermeneutik, heißt es dort, seien tradierte Wege in der Anwendung der Psychoanalyse auf Kunstwerke. Sie hätten mit der Zeit in eine Sackgasse geführt und brächten fast nur noch ausgelaugtes Bestätigungswissen. Strategisch provokant plazierter Aufreißer, na klar, aber zugleich doch eine unverkennbare Breitseite gegen die eigene Zunft. Folgerichtig nährt die Überschrift des ersten Kapitels, „Zur Methode – Jenseits von Psychopathographie und Gegenübertragungshermeneutik“, die Erwartung, der vorliegende Band werde ein ‚livre de combat’ sein. Als Psychoanalytiker ist man bei derartigen Aufmärschen mit einem paradoxen Fragediskurs gerüstet: Worum eigentlich sorgt sich denn der Autor so vehement? Um die Kunst? Um die Psychoanalyse? Um den Anwendungsdiskurs? Wer ist mit dieser Sorge „mutterseelenallein“ – so der für das gesamte Buch adaptierte Titel einer Installation von Reinhard Mucha?

In solchen Rezeptions-Situationen beginnt man das Buch am besten vom Material her. In medias res findet der Leser vier kraftvolle Werkanalysen vor. „Mutterseelenallein“ von Reinhard Mucha, eine Installation im Frankfurter Museum für Moderne Kunst, die im März 2000 nach 9jähriger Ausstellungsdauer abgebaut wurde. „Threshold“ von Bill Viola, eine von mehreren, 1999 in der Frankfurter Innenstadt verteilten Installationen in der Frankfurter Börse. „Herzblatt“, eine Sendung vom 28.2.1997 im Ersten der ARD. Und zum Schluß die Betrachtung einer homogenen Gruppe von nach 1990 hergestellten Werken, die ihr Zentrum in einer besonderen Präsentation des Körpers hätten: „Postfeministische Kunst- ein männlicher Blick“. Das Kapitel „Mutterseelenallein“ (Mucha) enthält eine sorgfältige, Schritt für Schritt, Augen-Blick für Augen-Blick aufgefaltete Installationsbeschreibung. Ein Museumsraum, an dessen Wänden 16 gleichaussehende Bilderrahmen mit Fotographien von Stühlen hängen. Reiches Beschreibung setzt schon bei der Frage ein, wo das nur durch Begehung zu erschließende Kunstwerk beginne, wo überhaupt sein Rahmen sei und ob man bei der Begehung selber zum Kunstwerk gehöre, sich also überhaupt „mutterseelenallein“ beschäftigen wolle. Reiche gelangt nach akribisch notierten, ziseliert zwischenbilanzierten und erneut differenzierten Seh-Gängen zu einer Ikonographie der gesamten Installation und ihrer Deutung von „der Zerstörung und der Wiederherstellung“  der ‚Ikone Beuys’. Im zweiten Kapitel wird Violas „Threshold“ beschrieben als ein „begehbares Gehäuse und drei bewegliche, sich zyklisch wiederholende Elemente: ein elektronisches Schriftband, dessen Nachrichten von einer Presseagentur täglich aktualisiert werden, drei an die Wand eines Innenraumes projizierte Videos und das Tonband eines Atemgeräusches.“ Bei den Nachrichten handelte es sich seinerzeit um solche aus dem Kosovo und über die verschütteten Bergleute in Lassing. An die drei Wände werden „überlebensgroß, die gesamten Wände bedeckend, die Gesichter von drei Schlafenden geworfen“. Der die Schwelle des Nachrichtenbandes überschreitende Betrachter wird zu einem „Vierten im Bund. Du bist der, dessen Schlaf Du hier siehst“. Nach Fixierung der durch Viola erzeugten Befindlichkeit kommt Reiche zu der brand-aktuellen Sinnstruktur vom „kollektiven Schläfer“. Das dritte Kapitel, „Herzblatt“ - Fallstruktur einer Heiratsregel“, ist keine Analyse eines Kunstwerks. Es ist ein Husarenstück sozial-(psycho-) analytischer Feldforschung, die mit den Mitteln der teilnehmenden Beobachtung und dem Dreischritt von Sequenz-Kommentar-Differenzierung Fernsehsendungen untersucht. In der Sendung werden in zwei Durchgängen nach einer festen Regel zwei heterosexuelle Paare aus insgesamt vier Männern und vier Frauen, die sich alle nicht kennen, gebildet und in ein „ARD-Wochenende“ geschickt. Eine Woche später wird nach dem Status der Paarbildung gefragt. Reiche rekonstruiert minutiös die Regeln der Paarbildung und entlarvt die Zeitdiagnose: „Aus der Sehnsucht nach einer funktionierenden, harmonischen Heiratsregel wird Unterwerfung unter ein totales System praktiziert – und die Behauptung, es handele sich dabei um ein Spiel, ist Teil der Regel.“ Reiches Analyse illustriert fabelhaft Debord’s Kulthypothesen von der „Gesellschaft des Spektakels“. Im vierten Kapitel, „Postfeministische Kunst – ein männlicher Blick“, collagiert Reiche eine informative Übersicht über feministische Kunst überhaupt, um so auf die Bestimmung von „postfeministisch“ zu gelangen. Postfeministisch ist die Lösung aus einer Identifizierung „mit genau der Form, die die bekämpfte patriarchalische Ordnung in der bipolaren Verteilung der Geschlechterstereotype dem Weiblichen zuschreibt.“ Das wird an der vergleichenden Betrachtungen zweier Tischgesellschaften verfeinert: Judy Chicago 1970: „Dinner Party“ und Katharina Fritsch 1988: „Tischgesellschaft“. Dann folgt eine hoch beredte Reihe sozial-(psycho-)analytischer Zeitdiagnosen: (1) Die „strukturelle Lüge der erotischen Kunst“ in den Arbeiten von Bettina Rheims; (2) „Aneignung ... Zeigen ... und Macht des Fetisch und Verwandlung des Fetisch in das Schöne“ in den Arbeiten von Vanessa Beecroft; (3) „Feminisierung des männlichen Geschlechts“ in den Arbeiten von Elizabeth Peyton; (4) „Kontrastfolie fetischistischer Erregtheit“ in den Arbeiten von Allen Jones; (5) „Zwischen Girl und Vanitas“ in den Arbeiten von Karen Kilimnik; (6) „Kein Unterschied zwischen Kunst und den schönen Dingen des Konsums“ in den Arbeiten von Sylvie Fleury  und (7) „Der ganze dreckige, pornographische Konsumismus muss enttarnt werden“ in den Arbeiten von Sarah Lucas. Hatte die analysierte ARD-Sendung kaum etwas mit einem Kunstwerk gemeinsam, so handelt es sich bei den zuletzt besprochenen Werken um angewandte Kunst.

Soweit das Material des Buches in vier werkanalytischen Kapiteln, die den Schleier der Bekanntheit gewöhnlicher Bilderfahrungen zur Seite ziehen. Zurück zum ersten Kapitel, „Zur Methode - Jenseits von Psychopathographie und Gegenübertragungshermeneutik“. Worauf will nun Reiche mit diesem Livre de Combat hinaus? Reiche empfiehlt dem Leser des Buches die Psychoanalyse als Sehmodell. Das dem Betrachter aus dem Kunstwerk entgegentretende Fremde und Andersartige, die radikal fremde oder andere visuelle Sprache eines Werkes soll einer Analysenmethode unterworfen werden, die auf Psychoanalyse gründet. Das Andere und das Fremde werde gleichsam mit der Psychoanalyse domestiziert. Insofern fügt Reiche der Kunstgeschichte als akademischem Fach – beispielsweise solchen Richtungen, die sich, wie weiland Morelli, an der Autorenschaft und an der Originalität eines Werkes orientierten, oder die, wie später Warburg, nach symbolischen Formen und den geistigen Grundlagen einer visuellen Kultur suchten oder sozialgeschichtliche Sichtweisen einführten – eine psychoanalytische Seh-Schule hinzu. Das ist originell. In Fußnoten und knappen Anmerkungen werden deren Vorläufer (z.B. Freud) und Wegbereiter (z.B. Kris, Waelder und Morgenthaler, der selber malte) gestreift. Die - freilich noch nicht so elaborierten -  psychoanalytischen Sehmodelle einiger zeitgenössischer deutschsprachiger Psychoanalytiker werden aus Gründen, die ich später zusammenfasse, ausgeschieden. Auch jenen Sehmodelle, die sich an der Schönheit und Größe eines Werkes orientieren, räumt Reiche eher wenige Chancen ein. Wenngleich er weiß, dass das „Tabu über Größe Schönheit und Wahrheit der wirkliche Hintergrund [bleibt], vor dem gedacht, gearbeitet und gelitten wird, [und dass] nur in der Idee von Schönheit und Größe Form und Inhalt im Denken zueinander kommen [können], bleibt ihm dieser Zugang problematisch, denn „Der Konstruktivismus und die Systemtheorie haben Größe und Schönheit vollkommen auf eine Frage der gesellschaftlichen Einigung, also auf  gesellschaftlich hergestellte Codes über schön / hässlich, oder schön / nicht-schön reduziert.“ Was hätte Rosenkranz dazu gesagt? Und was Jencks, der – unverkennbar auf Waelder gestützt – darauf hinführt, dass das Schöne weder subjektiv noch objektiv, weder außen noch innen gegeben sei? Vielmehr sei das Schöne ein Erfahrungsstrom, der durch Verdichten von Formen, durch Freude am Neuen, durch Symboliken der Vollendung – durchaus psychoanalytisch konzipierbar als Projektion von „all-overness“ -  und durch einen bedeutsamen Inhalt auf und davon davontrage. Zurück zu Reiches Sehmodell. Es hat seinen Zugang über die Formanalyse, seit alters her der common ground kunsthistorischer Praktiken. Aber die von Reiche innovierte Grundlage der Formanalyse „besteht in der methodisch kontrollierten Erzeugung einer Strukturhomologie von Traum und Kunstwerk“. Basta! Denn der „globale [Einbau der Psychoanalyse] in eine Kunsttheorie“, der „psychopathographische, über die Autor-Psyche laufende Zugang“, die „Rekonstruktion der Genese und Psychodynamik von Kreativität“ und die „systematische Nutzbarmachung der sogenannten Gegenübertragung des Betrachter für die Analyse des Kunstwerks“ – alle diese Zugänge hätten „mit der Zeit in die Sackgasse geführt. Mit ihnen wird heute fast nur noch ausgelaugtes Bestätigungswissen, aber keine Erkenntnis mehr erzeugt“. Eine nachvollziehbare argumentative Hinführung auf  die Radikalität dieser Position wird dem Leser nicht angereicht. Reiche zitiert seine Arbeite über den „Anwendungsdiskurs“ (PSYCHE 1995). Wer dort nachliest, wird jedoch enttäuscht. Von Kunst ist dort so gut wie keine Rede. Also bleibt dem Leser nichts anderes übrig, als Reiches Radikalität hier und jetzt zu durchschauen. Was genau ist Strukturhomologie? Gemeint ist, dass die Analyse der fremden visuellen Sprache und die Werkdeutung analog zur „Traumdeutung“ Freuds vorzunehmen sei: Der geträumter Traum entspreche dem  gemalten Bild; der manifeste Traum (erinnert / erzählt) entspreche der Bildbeschreibung bzw. dem Protokoll der Ausdrucksgestalt des gemalten Bildes; die Traumarbeit (Verschiebung, Verdichtung, Rücksicht auf die Darstellbarkeit) entspreche der Form-Analyse mit Hilfe der Regeln der Traumarbeit; der latente Traumgedanke (unbewusst: Trieb – Wunsch – Konflikt) entspreche der latenten Sinnstruktur bzw. der unbewußten Strukturgesetzlichkeit des Werkes. Diese Strukturhomologie werde methodisch erzeugt durch vier Schritte: Schaffung eines Rahmens; Deutung nur innerhalb dieses Rahmens; Fortschreiten von der Oberfläche zur Tiefe; prinzipielle Gleichbehandlung alle Bild-Elemente; methodische Regeln der Verknüpfung und Strukturierung aller disparater Elemente der Oberfläche, „denn zur Tiefe gelangt man nicht über privilegiertes tiefes Wissen“.

Soweit Strukturhomologie und psychoanalytisch orientierte Form-Analyse als tonangebende Paradigmen. Über die Kathedralität dieses Sehmodells wird gestritten werden müssen: Über Reiches implizite Überzeugung, dass das Kunstwerk (1) wie eine Kompromissbildung und (2) wie  neurotisch, weil „vorübergehend wie ein Symptom“ anzusehen sei; dass es (3) in der gleichen mentalen Verfasstheit wie  im Traum entstanden und (4) keiner anderweitigen, nämlich ‚ästhetischen’ Verfasstheit (Meltzer / Harris Williams) unterworfen ist, und dass es (5) keine anderen Wege zum Unbewussten, zur latenten Sinnstruktur, zur unbewußten Strukturgesetzlichkeit eines Werkes gebe, als den der Traumdeutung. Klee beispielsweise würde (6) zu bedenken geben: Tatsächlich, „Das Wort ist doch recht weit vom Mysterium entfernt, [aber] Ton und Farbe [sind] an sich schon Mysterium“. Er würde fragen, welches Hyper-Unbewusste Reiche mit seinem methodischen Ansatz zu konstituieren gedenke. Auch sähe Klee (7) vielmehr eine Isomorphie von Kunstproduktion und Kunstrezeption denn eine Homologie von Kunstproduktion und Traumproduktion. Der Traum war ihm und anderen (Krechel) (8) eher ein Ausgangspunkt für eine Kunstproduktion. (9) Andere Spezialisten für Sehmodelle, wie z.B. Crary würden fragen, warum  Reiches Sehmodell nicht den - durchaus psychoanalytisch konzeptualisierbaren – Blickwinkel zulasse, welche Theorie das jeweilige Kunstwerk über die Bildprozesse des Betrachters und damit über dessen Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und Bewusstsein über die latente Sinnstruktur aktualisiere. Oder (10): welche Theorie setze das jeweilige Kunstwerk über das unbewußte situationistische Selbstverständnis (Debord) des Betrachters -- sein Sich-als-in-der-Welt-sehen und sein In-der-Welt-als-gesehen-werden -- durch? Welche Illusionstheorien und welche Spektakeltheorien seien im jeweiligen Kunstwerk über den Kunstkonsumenten und über den Kunstmarkt verborgen? Und (11): unterscheidet sich denn kein Kunstwerk vom anderen? Kann man folglich überhaupt nur ein einziges psychoanalytisches Sehmodell für alle Kunstwerke annehmen? Hat nicht ein anderes Kunstwerk zwar auch etwas mit dem Betrachter gemacht, jedoch längst nicht in der gleichen Weise systematisch in dessen Sehen und in dessen Erfahren des Schönen eingegriffen wie das eine Kunstwerk? Ein Nächster würde fragen, ob Reiches Auswahl eines einzigen psychoanalytischen Sehmodells nicht (12) geradezu vermeide, die Aktivität einer „zerstreuten Aufmerksamkeit“ (Ehrenzweig), die der psychoanalytischen gleichschwebenden Aufmerksamkeit am ehesten entsprechen könnte, einzunehmen? – Fragen über Fragen. „Wer fragt ist ein Narr für fünf Minuten. Wer nicht fragt, bleibt ein Narr für immer“, lautet ein chinesisches Sprichwort.

Ich wünsche dem verschlungenen ersten Kapitel eine -  im Buch nur anbegonnene -großartige Diskussion. Ein psychoanalytisches Sehmodell vorzuschlagen, ist nicht nur originell. Reiches Vorschlag muss über den Brunnenrand der Bildende Kunst hinaus im Zusammenhang mit dem medialen Zeitalter beachtet werden. In ihm übernahm der ‚iconic turn’ die führende Gestaltung von Erfahrung und es hat sich eine Wissenschaft von der Kritik des Sehens (Konersmann) herausgebildet. Analog zu den Alphabetisierungskampagnen der frühen Neuzeit  denkt sie bereits an Ikonisierungschulen, wie z. B. die Programme der neuen Bildpädagogik des Getty Trusts oder beispielsweise Calvion, dem eine Pädagogik der Einbildungskraft vorschwebt (Bredekamp). 

in: Psyche 56, 1256-1260, 2002.  

©  Dr. med. Joachim F. Danckwardt 
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